„Mixing Up The Medicine“ – ein erster Blick ins Buch

Nur ein weiteres Coffeetable Book? Oder gar der Schlüssel zum Dylan-Code?

Foto: Americana, Copyright Cover: Droemer-Verlag

Irgendwo las ich davon, dass „Bob Dylan: Mixing Up The Medicine“ den Dylan-Code knacken würde. Ehrlich gesagt wird das so schnell keiner schaffen – schon gar nicht Clinton Heylin – und es stellt sich natürlich auch die Frage, ob man das überhaupt will. Beim neuen großen Bob-Buch des Bob Dylan-Center in Tulsa, Oklahoma, würde es mir schon genügen, ich bekäme den einen oder anderen Gedanken zu Dylan, den ich so noch nicht gelesen habe. Oder Dokumente und Querverbindungen, die mir so noch nicht geläufig waren.

Das ist also der strenge Maßstab, den ich angesichts des Herausgebers, der Preises und des großen Tamtams anlegen muss. Daher wird das Buch auf diese Momente hin bei diesem ersten Blick gescannt. Denn im Vorwort schreiben die Herausgeber und Editoren Mark Davidson und Parker Fishel genau dies: „Ausführliche Beschreibungen des abgebildeten Archiv-Materials werfen zudem ein neues Licht auf bekannte Ereignisse und stellen immer überraschende Querverbindungen zwischen Personen, Themen und Motiven aus dem Dylan’schen Universum her.“

Drei Themen greife ich mal stichpunktartig heraus:

  1. Die vor mir oftmals als auserzählt empfundene Phase 1961-1966
  2. Die Basement Tapes und Country-Phase 1967-70 (eine meiner Lieblingsphasen) und
  3. Das Spätwerk ab Love & Theft (immer noch in der breiten Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen)

Das Buch schöpft aus dem Vollen

Doch vorher muss einfach gesagt werden, wie überwältigend die Fülle des Materials ist. Das Buch schöpft aus dem Vollen von rund 10.000 Exponaten aus Dylans Karriere; Handschriftliche Manuskripte, Fotografien, Plakate, Erinnerungsgegenstände etc., etc., etc. Das Buch erzählt die Dylan-Geschichte anhand der Exponate und Analysen in Essay-From. Die Chronologie-Texte sind sachlich gehalten, entziehen sich gewagten Interpretationen, sprechen aber durch die dargestellten Sachverhalte für sich. Interpretationsleistungen und das Darstellen von Querverbindungen – dafür sind die Aufsätze eines vielfältigen Pools von Dylan-Afficionados zuständig: Sammler, Weggefährten, Musikjournalisten.

1961-1966

Zwei Stellen haben mich hier wirklich fasziniert. Ein Sammler von Woody Guthrie-Devotionalien, hauptsächlich Schriften und Malereien/Zeichnungen Barry Ollmann, zieht aus Fundstücken Parallelen und Verbindungen zwischen den beiden Künstlern. Das Verbindende ist weniger die strenge Form des Folk-Songs und der politische Protest – die kommen bei Dylan später nur noch hin und wieder vor – es ist die Arbeitsweise, das Arbeitstempo, die Arbeitsproduktivität. Bob ebenso wie Woody, sind ständig am Schreiben, am Skizzieren, am Zeichnen. Beide reisen staunend über die Menschen, Gott und die Welt umher und stehen gleichsam unter Zwang, das Gesehene, das Gespürte, das Erlebte festzuhalten. Woody während der Great Depression und New Deal-Jahre, Dylan von der Zeit des Aufbruchs in den 1960er Jahren bis heute nach dem Ende des „amerikanischen Jahrhunderts“ und dem gespaltenen Amerika.

Die zweite sehr interessante Stelle ist da, wo es um den berühmt-berüchtigten Abend in Newport geht, als Dylan einstöpselte. Anhand der Darstellungen von Augen- und Ohrenzeugen wird deutlich, dass das plakative Image, das von einem Ereignis bleibt oftmals wenig mit dem wirklichen Ablauf der Ereignisse zu tun hatte. Durch die unterschiedlichen Perspektiven der Leute, die hier zu Wort kommen, wird klar: Ja, es war Dylans Abschied aus der Folkszene und nein, so einfach war die Geschichte von der Ablehnung der Elektrifizierung durch Publikum und Pete Seeger nicht. Oftmals werden Seeger und seine Freunde da zu Pappkameraden zugunsten einer rein entpolitisieren, individualisierten Geschichte von Musik. Fakt: Dylan hatte die Folkwelt hinter sich gelassen, Newport war zu klein für ihn. Aber: Er blieb dennoch ein Folksänger und Pete Seeger wusste das.

1967-70

Foto: Americana, Copyright Cover: Droemer Verlag

Während Dylan sich in der Öffentlichkeit rar macht – er tritt nur 1968 beim Woody Guthrie-Tribute und 1969 beim Isle Of Wight Festival auf – ist er aber dennoch produktiv wie selten. Er nimmt die vorerst unveröffentlichten Basement Tapes auf, malt und zeichnet, bringt erst das reduzierte Folk-Rock-Album „John Wesley Harding“ und dann das Country-Album „Nashville Skyline“ auf und erscheint dann zum Duett in Johnny Cashs-TV-Show. Manche aber sind entsetzt, halten ihn bestenfalls für unpolitisch, schlimmstenfalls für Reaktionär. Andere aber verstehen worum es Dylan geht. Er allein bestimmt, welche Musik er macht und vor allem welche Musik für seinen eigenen amerikanischen Kanon noch notwendig ist.

Wie wichtig ihm bei alledem Woody ist, zeigt auch die von Harold Leventhal beigesteuerte Erinnerung wie schnell Dylan nach Guthries Tod versicherte, bei einem Tribute dabei zu sein.

Für mich der zentrale Text hier ist der wunderbare Aufsatz von Gregory Pardlo. Der afroamerikanische Schriftsteller erzählt von Nähe und Gemeinsamkeiten von Bob Dylan und der Black Panther Party. Die Black Panther-Anführer Bobby Seale und Huey Newton sind begeisterte Dylan-Fans. Begeistert von dessen Sprache – Pardlo identifiziert bei beiden Seiten den „Jive“, also die subversive Poesie – und seinen Sprachbildern „The selling postcards oft he hanging“, sehen die Panthers Bob als einen „Brother“ an. Und tatsächlich „ziehen Afroamerikaner und ihre Kultur ihn immer wieder an“, weiß Pardlo.

2001 – heute

„Love And Theft“ ist Dylans zweite großartige, tiefgehende Beschäftigung mit dem „alten, unheimlichen Amerika“ nach den Basement Tapes. Er erforscht die musikalischen Wurzeln und spickt sie mit Songs wie Panoramen über den alten Süden, über Sklaverei und Galanterie, Brüderkämpfe und Minstrel Shows. Faszinierendstes Lesestück für mich ist Peter Careys „Ansichtskarte aus Tulsa“. In fabelhaften Gedankensprüngen schweift er von „Tweedle-Dee & Tweedle-Dum“ zu der Zerstörung der „Black Wall Street“ in Tulsa 1921. Genau der Stadt, in der Bob Dylans Archiv seine Heimstatt gefunden hat. Dylan weiß um die Geschichte um Tulsa. Carey erzählt von Notizen Dylans am Rande des Songtexts, die sich auf die Gewalttaten in Tulsa beziehen. Ein Jahr früher – 1920– wurden in Duluth, Minnesota, drei schwarze Zirkusarbeiter von einem weißen Mob gelyncht. Dylans Vater war Augenzeuge und diese Erinnerung spiegelt sich in „The seeling postcards of he hanging“ aus Desolation Row (1965) genauso wieder wie das Pogrom von Tulsa in „Murder Most Foul“ aus dem Jahr 2020: „…Play tragedy, play ‚Twilight Time‘ / Take me back to Tulsa to the scene of the crime…“ Es ist sogar wahrscheinlich, dass Dylan aufgrund der Geschichte von Tulsa entschied, dass dort sein Nachlass genau an der richtigen Stelle sein würde. An dem Ort, um es mit William Faulkner zu sagen, wo die Vergangenheit mit all ihrem Hass, ihren Gewalttaten und Tragödien, die auch zu Amerika gehören, noch nicht einmal vergangen ist… Erst kürzlich hat eine konservative Richterin Entschädigungen für die letzten Überlebenden abgelehnt. Dylan bleibt auf seine Art progressiver Aufklärer und Vertreter des anderen Amerika.

Ausführlich folgen Texte und Artefakte aus seinem Spätwerk, seinen Touren, seiner Radio Show, seiner Malerei und und und. Leider schließt das Buch mir einer etwas zu devoten Hymne auf Dylan von Douglas Brinkley. Denn auch ohne dessen Superlative für „seinen Freund“ (!), ist Dylan einfach der bedeutendste lebende amerikanische Künstler, noch dazu einer, der die amerikanische Kultur bis heute nachhaltig verändert und geprägt hat.

Fazit: Die Stichproben haben mich überzeugt. Das ist nicht irgendein Scrapbook. Es ist eine gut aufgebaute, durch Abbildungen und Aufsätzen qualitativ bestens unterfütterte Chronik. In den beigesteuerten Aufsätzen wird immer wieder einmal vermeintlicher Common Sense über Dylan überwunden und in Frage gestellt. Ohne reißerische Ambitionen á la Clinton Heylin oder – sieht man mal von Brinkley ab – allzu offensichtliches „Fantum“. Ein Buch, das einige neue Seiten aufschlägt. Und auch gut unter den Weihnachtsbaum passt!

Bob Dylan: Mixing Up The Medicine. Deutsche Ausgabe. Unveröffentlichte Fotos und Zeugnisse aus dem Bob Dylan-Archiv von 1941 bis heute, München 2023, 608 Seiten mit vielen Abbildungen, 98 Euro.

2 Antworten to “„Mixing Up The Medicine“ – ein erster Blick ins Buch”

  1. Avatar von Eugen Pletsch Eugen Pletsch Says:

    Danke, Thomas, wieder ein hochspannender Text aus Deiner Feder!
    Den Subterranean Homesick Blues sang ich einst auf der Straße. Vielleicht wäre noch im Zusammenhang mit den ‚Black Panthers‘ zu erwähnen, dass eine radikale Gruppe namens „Weathermen“ Timothy Leary aus dem Knast befreite. Ihr Name bezog sich auf Dylans Zeile: „You don’t need a weatherman. To know which way the wind blows“.
    Eine andere visionäre Zeile aus Subterranean Homesick Blues ist unserer Ampel-Regierung auf den Leib geschneidert:

    „The pump don’t work

    ’Cause the vandals took the handles“

    Herzliche Grüße

    Eugen

    • Avatar von bobby1963 bobby1963 Says:

      Die „Weathermen“ sind mir natürlich bekannt. Vor ein paar Jahren gab es dazu mit „The Company you keep“ einen ganz interessanten Film von und
      mit Robert Redford.

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