Jesse Welles – Protestsänger in Trumps Amerika

Kein neuer Bob Dylan, eher ein neuer Phil Ochs. Auch diese Generation braucht solch einen Sänger

Jesse Welles, Foto: Jesse Welles

Als im Januar 2021 Trumps faschistische MAGA-Horden das Capitol angegriffen hatten, schrieb ich: „Wer schreibt also den Folksong über dieses Ereignis, den man braucht, um die Strippenzieher anzuklagen und der Lächerlichkeit preiszugeben und sie Schimpf und Schande auszusetzen?“ Damals blieb es erstaunlich ruhig. Nun, während der zweiten Trump-Herrschaft, gibt es tatsächlich einen jungen Folksänger, der Trump, MAGA und den gesellschaftlichen Wahnsinn in den USA musikalisch bearbeitet und offen in seinen Songs kritisiert und verspottet.

Musikalischer Protest in altbewährter Weise

Jesse Welles, Jahrgang 1994, heißt der junge Mann, der in altbewährter Weise mit Gitarre und Mundharmonika im Halter die Mächtigen angreift. Mein Dank gilt hier der wunderbaren Julia van Embers, die von ihrem USA-Trip die Nachricht mitbrachte, da gäbe es wieder einen jungen Folksänger, der gegen Tyrannei, Verfolgung und Krieg sänge.

Und tatsächlich wer seine Songs wie „The President“, „War Isn’t Murder“, „The Poor“ oder „Mass Shootings“ hört, der hört unverstellte Kritik und trotzdem feine Lyrik. Natürlich spielt Welles mit dem Bob Dylan-Appeal, aber selbst der frühe Dylan war nie so eindeutig, war vieldeutiger, als es Welles ist. Welles erinnert da mehr an Phil Ochs als an Dylan. Und Dylan hatte Ochs ja vorgeworfen, mehr Journalist als Songwriter zu sein.

Das neue junge Gesicht des Protestsongs

Aber wie auch immer. Auch sechzig Jahre nach dem Folk-Revival giert das Publikum nach solchen Archetypen. Und Welles, der schon eine Dekade Musik macht und Frontmann der Bands Dead Indian und Cosmic American war, hat im vergangenen Jahr die Lücke geschlossen. Nun hat der Protestsong wieder ein junges Gesicht. So sehr man Joan Baez und Neil Young schätzt – die neue Protestgeneration, die Generation „Figh Oligarchy“ und „No Kings“ braucht Musik, die nach vorne schaut und nicht rückwärtsgewandt die Sixties verklärt.

Was Bob Dylan ja nie machte. Er hat die Folk-Revival-Seligkeit implodieren lassen und ist vor Woodstock geflohen. Und genau deswegen hat er die Bedeutung erlangt. All die tagespolitischen Protestsänger wie Phil Ochs oder Barry McGuire kennen heute nur noch Eingeweihte. Indem Dylan aber sich vom Zeitgeist entkoppelte, konnte er zeitlos werden. Und deswegen muss er heute keine neuen Protestsongs schreiben. Von „Masters of War“ über „Hattie Carroll“ bis „All Along The Watchtower” – Dylans böses Amerika ist wieder da, war nie fort. Rüstung, Rassismus, Verfolgung von Minderheiten und Andersdenkenden – all das ist wieder da und schlimmer denn je.

Mit strubbeliger Schönheit, Spott und klarer Haltung gegen den orangenen Horror-Clown

Und daher ist Jesse Welles hoch anzurechnen, dass er mit offenem Visier diesen Kampf aufnimmt. Dave Matthews hat ihn bei „Farm Aid“ als „einer der besten Songwriter, den ich kenne“ vorgestellt. Aber darum geht es, so glaube ich, gar nicht. Welles artikuliert das, was viele denken, aber nicht aussprechen. Oder man hört sie nicht. Welles hat konsequent Social Media genutzt, bevor er bei Farm Aid und im TV auftrat. Dass er an ein vertrautes Performance-Schema anknüpft steigert seine Massenwirkung. Dass er eine junge strubbelige, lässige Schönheit ist ebenso. Er ist der Gegenentwurf zum orangenen Horror-Clown und seine geschniegelte Regierungsbande. Weite Teile seiner Herbsttournee durch die Staaten ist bereits ausverkauft.

Jesse Welles muss auch weder Bob Dylan noch Phil Ochs sein. Er ist die Stimme der neuen amerikanischen Protestgeneration. Das ist im Augenblick erstmal das einzige, das zählt.

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