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Mitten in der Corona-Krise veröffentlicht die unergründliche Sphinx des Pop plötzlich den ersten neuen Originalsong seit 2012. Bob Dylan schenkt der Welt „Murder Most Foul“ und ein paar Grüße, ganz der Situation angemessen:“ Greetings to my fans and followers with gratitude for all your support and loyalty across the years. This is an unreleased song we recorded a while back that you might find interesting. Stay safe, stay observant and may God be with you. Bob Dylan“.
Wortmeldungen während der Corona-Krise
Das epische Werk von gut siebzehn Minuten hat die Ermordung John F. Kennedys zum Thema, lässt uns spüren, welch Verlust für Amerika und die Welt das war, und wird im weiteren Verlauf zu einer Reminiszenz an die popkulturellen Mythen des amerikanischen Jahrhunderts, dessen Sohn Bob Dylan als amerikanischer Singer-Songwriter mit globaler Wirkung war und ist. Ohne Zweifel: Ein Great American Song!
Gut drei Wochen später erneut eine Veröffentlichung: „I Contain Multitudes“. Der amerikanische Künstler beruft sich auf den literarischen Urahn Walt Whitman, der in seinem „Song Of Myself 51″ schreibt: Do I contradict myself? Very well then I contradict myself, (I am large, I contain multitudes.).“ Dylan bekräftigt hier, er bestehe aus Vielfalt und aus Widersprüchen. Eben ganz wie sein Land.
Noch einmal drei Wochen später erscheint erst eine weitere Single, „False Prophet“ und dann wird sogar ein ganzes Album für den 19. Juni angekündigt: Rough And Rowdy Ways“.
Und schon nehmen die Spekulationen ihren Lauf. Sowohl das Cover der Single – ein Skelett mit Spritze in der Hand vor dem Schatten eines gehängten Mannes, in dem viele Donald Trump sehen wollen, als auch Verse wie „Hello stranger – Hello and goodbye, you rule the land but so do I, you lusty old mule – you got a poisoned brain, I’m gonna’ marry you to a ball and chain.“ lassen viele auf einen Kommentar zur aktuellen Situation in den USA und der Welt schließen, angesichts einer Corona-Pandemie und einem US-Präsidenten, der nur noch ein Deal-Maker ist, der Spaltung, Streit und Ausgrenzung forciert.
Doch Dylan wäre nicht Dylan, wenn es so eindeutig wäre. Dylan ist ein Meister, des Tricksens, des Haken-Schlagens und des falsche-Fährten-Legens. Denn vom Text her ist „False Prophet“ beste Dylan-Poesie. Mehrere Perspektiven und Deutungen sind möglich. Wer ist der Erzähler? Der Tod? Der Teufel? Dylan selbst? Der Weltgeist? Sicher ein bisschen von allem. Und wieder liegt ein Hauch von Apokalypse über dem Song. Aber: Keiner findet schönere Worte, um sie zu beschreiben oder sie zumindest anzudeuten.
Diebstahl aus Liebe
Dylan zieht Bilanz auf der Grundlage dessen, was heute passiert: Über Amerika, die Welt und sein eigenes Leben. Er tut dies musikalisch auf der Grundlage von „If Lovin‘ Is Believing“, einem alten Rythm & Blues-Songs von Billy „The Kid“ Emerson“ aus dem Jahre 1954, von dem er sich scheinbar musikalisch ein bisschen was ausgeborgt hat. Da ist es wieder- eines der Grundmotive seines Alterswerks – „Love & Theft“ hieß sein Album von 2001, „Diebstahl aus Liebe“ das künstlerische Prinzip dahinter. Der bedeutende Dylan-Kenner Heinrich Detering hat dieses Prinzip des „Diebstahls aus Liebe“ ja für die Texte des Spätwerks in „Die Stimmen aus der Unterwelt: Bob Dylans Mysterienspiele“ (2016) in einzigartiger Weise herausgearbeitet.
Da passt es wie die Faust aufs Auge, dass der Albumtitel „Rough And Rowdy Years“ einem alten Jimmie Rodgers-Song entlehnt ist. Rodgers ist auch im Inneren des Doppel-Albums auf einem Bild mit der Carter Family zu sehen. Auf die Antwort zur Frage, ob der „Vater der Countrymusik“ oder die „First Family Of Country Music“ eine Inspiration für die Songs des Albums waren, wird man noch warten müssen. Während diese Zeilen geschrieben werden, sind von der Tracklist nur die drei bereits veröffentlichten Songs bekannt.
Das Plattencover wiederum zeigt eine Tanzszene, die an einen schwarzen Juke-Joint erinnert, und in Realiter 1964 in einem schwarzen Tanzlokal im Ost-Londoner Stadtviertel Whitechapel aufgenommen wurde. Das wäre also das schwarze Popkultur-Gegenstück zur eher weißen Countrymusik mit ihren Protagonisten Jimmie Rodgers und der Carter Family. Diese Trennung ist aber ohnehin eine künstliche und Bob Dylan hat in seiner ganzen Karriere daran gearbeitet, sie in seiner Person aufzuheben.
Vielstimmige Projektionsfläche
Dylan lässt in seinem Alterswerk viele Stimmen für sich sprechen. Denn Dylan – „die menschlichste aller Stimmen und der unstimmigste aller Menschen“ (Günter Amendt) – ist Medium und Resonanzboden für viele Stimmen, ist eine Projektionsfläche für viele Haltungen und Hoffnungen. Wie kaum ein anderer der modernen Singer-Songwriter-Zunft versteht er es, die Erzählperspektiven mitten im Song zu wechseln. Er nimmt in den Texten wie im künstlerischen Leben verschieden Rollen ein. Trägt verschiedene Masken. Spielt mit Musikgenres, ändert seine Singstimme wie es ihm gefällt. Dylan das Chamäleon.
Er geht schon seine ganze Karriere lang den universellen Fragen nach. Auf der Suche nach Antworten, auf der Suche nach Sinn. Wird Protestsänger, Folk-Rocker, Acid-Rocker, Country-Landlord, Big Band-Leader, wiedergeborener Christ und Gospelsänger, alternder, zielloser Rockstar, Southern Gentleman, Swing-Crooner, Fragender der letzten Fragen. Er komponiert sein Werk und die Kunstfigur Bob Dylan aus Homer, Ovid, Shakespeare, Bibel und aus ganz viel amerikanischer Populärkultur. In seiner legendären Radio Show hat er daraus den Patchwork-Quilt des idealtypischen Amerika geknüpft. Wohl wissend, dass die Wirklichkeit draußen eine andere war.
Dieses idealtypische Amerika, dieser Sehnsuchtsort, konnte aber nur aufrechterhalten werden, solange die Widersprüche Amerika nicht versucht wurden, destruktiv aufzulösen. Solange es zumindest an der Oberfläche ein Amerika gab. Seit Trump ist diese Selbsttäuschung endgültig beendet.
Überzeugter Amerikaner der Vielfalt und der Widersprüche
Bob Dylan weiß um die Dämonen seines Landes. Er weiß um den Rassismus: „Dieses Land ist einfach zu abgefuckt, was die Hautfarbe angeht… Leute gehen sich gegenseitig an die Kehle, nur weil sie verschiedene Hautfarben haben. Es ist der Gipfel des Wahnsinns und wirft jede Nation – oder Nachbarschaft – zurück“ (Rolling Stone, 2012). – Genauso wie er um Gewalt und Spaltung weiß. Er hatte Hoffnung für seine Nation mit John F.Kennedy, Martin Luther King und Robert Kennedy und er hat sie alle sterben sehen. Als jüdischer Junge hat er von seinem Vater die Geschichte des Lynchmords an drei jungen Schwarzen 1920 in Duluth Minnesota erzählt bekommen. Als junger, wissbegieriger Mann hat er sich eingehend mit Ursachen, Verlauf und Folgen des amerikanischen Bürgerkriegs beschäftigt. Er sang über die Morde an Emmeth Till, Hattie Caroll und Medgar Evers, er sang über den schwarzen Aktivisten George Jackson und über das Opfer der Rassenjustiz Rubin „Hurricane“ Carter.
Ob „The Ballad Of Hollis Brown“, sein Engagement für die amerikanischen Farmer, das zu Farm Aid führte oder „Workingman’s Blues #2“- Bob Dylan hat zudem einen feinen Seismograph für soziale Ungerechtigkeit. Er ist in der Iron Range unter hart arbeitenden Menschen groß geworden und in den 1940ern in die Jahre des New Deal hineingeboren worden.
Trotz seines Glaubens, den er auch nach der Abkehr von der Rolle des wiedergeborenen Christen nicht ablegte, folgte er nie der in den USA vieler Orts verbreiteten religiösen Überzeugung, dass die geschäftlich Erfolgreichen besonders hoch in der Gunst Gottes stehen und dass Armut der Ausdruck moralischen Versagens sei. Im Gegenteil: Mit „Gotta Serve Somebody“ las er den Besitzenden die Leviten und mit „Tempest“ beförderte er die oberen Zehntausend gleich mal mit der sinkenden Titanic auf den Meeresgrund.
Dylan ist wie viele andere Amerikaner ein gläubiger Mensch. Aber er ist im „Land der 1000 Kirchen“ schon lange an keine mehr gebunden. Er ist bis heute ein kritischer, unabhängiger Freigeist geblieben.
Falsche Propheten
Bob Dylan besitzt Empathie für die Menschen und ist ein überzeugter Amerikaner der Vielfalt und der Widersprüche. 2018 hat er sogar einen Song für ein Album mit Hochzeitsliedern für gleichgeschlechtliche Ehen eingespielt. Seine Tochter Desiree Gabrielle Dennis-Dylan ist gleichgeschlechtlich verheiratet.
Bob Dylan hat also entgegen aller Annahmen einen genauen Blick auf die Verhältnisse. Kein Wunder daher, wenn er – natürlich in der ihm eigenen Art – universell und nicht konkret- die Lage der Welt und der Nation negativ beschreibt. Bob Dylan distanziert sich in „False Prophet“ von den falschen Propheten, vom Verrat, vom Streit, vom Leben ohne Sinn: „I’m the enemy of treason – the enemy of strife, I’m the enemy of the unlived meaningless life, I ain’t no false prophet – I just know what I know, I go where only the lonely can go.“ Konkreteres darf man von ihm nicht erwarten.
Aber das reicht schon, denn der Referenzrahmen ist klar: Es sind die falschen Propheten und zwielichtigen Prediger, die stets für Amerika gefährlich waren und die Entsprechungen in der amerikanischen Populärkultur fanden: „Hier spricht John Doe“, „Das Gesicht in der Menge“, „Die Nacht des Jägers“ oder „Weißer Terror“ hießen die Filme dazu, Dylan ließ sie in Songs wie „Man Of Peace“, „Man In The Long Black Coat“ oder TV Talkin‘ Song“ auftreten. Und: „Even the president of the United States sometimes must have to stand naked“. Der Bezug zum Automanen und Dauerwahlkämpfer im Weißen Haus stellt sich da schnell von ganz alleine her.
Vertonung des Auseinanderbrechens
Doch allen falschen Propheten zum Trotz: Bob Dylan aber weiß um seine eigene Bedeutung und seine Zeitlosigkeit und bekräftigt seinen frühen Schwur „It Ain’t Me Babe“ indem er uns nun in „False Prophet“ zuruft: „Hello stranger – Hello and goodbye, you rule the land but so do I, you lusty old mule – you got a poisoned brain, I’m gonna’ marry you to a ball and chain…I ain’t no false prophet – I’m nobody’s bride, Can’t remember when I was born and I forgot when I died.“
Bob Dylan, der heute 79 Jahre alt wird, ist das letzte amerikanische Gesamtkunstwerk. Doch sein Amerika gibt es nicht mehr, er kann ihm beim auseinander brechen zusehen. Und vertont dieses Auseinanderbrechen auf seine ganz eigene Weise.
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