Pop steht Kopf

Die Texte der von Günter Ramsauer herausgegebenen Anthologie erzählen spannend, informativ, vergnüglich und durchaus ausladend über Popmusik und ihre kulturellen Kontexte. Immer dabei: Bob Dylan.

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Es gibt ja Leute, die finden es schlicht überflüssig, sich über Popmusik Gedanken zu machen. Bei anderen erschöpfen sich die Betrachtungen in Hitparaden-Historie und trivialen Promigeschichten. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Popmusik und ihren kulturellen Kontexten, gesellschaftlichen Hintergründen und politischen Bezügen hat gerade in Deutschland Seltenheitswert. Umso schöner, wenn Ramsauer und seine Mitautoren mit diesem Buch intelligenten Lese- und Nachdenkstoff zum Thema Popmusik liefern. Die Beiträge gehorchen keiner strengen inhaltlichen Vorgabe. Sie sind sachlich und voll vor prallen Informationen und schaffen somit großartiges Kaleidoskop der musikalischen Verknüpfungen vor dem Hintergrund musikalischer Sozialisationen.

Heino Walter: Parforceritt durch die Popmusik

So wie Heino Walter, der in einem Parforceritt durch die Popmusikgeschichte ein Füllhorn voller musikalischer Einflüsse, Plagiaten, Imitationen und Referenzen ausgießt und auch das Thema KI in der Musik angemessen behandelt . Neben manchem, das man kennt, gibt es auch zig Verweise auf weniger bekanntes. Beispielhaft sei hier Daniel Romano und dessen ständige Wandlungen erwähnt. dem musikalischen Chamäleon, den wir als Bandleader für Wanda Jackson 2012 in Dallas erleben durften. Damals trat seine Country-Inkarnation auf. Für uns nicht so recht wichtig, wurden wir aber dann mit seiner „Infidels by Bob Dylan & The Plugz“ hellhörig. Apropos Bob Dylan: Obwohl er in diesem Kontext seine Erwähnung findet, wird er im großen Stil hier nicht bearbeitet. Und das, obwohl  Dylan eigentlich eines der großen Chamäleons der Popmusikgeschichte ist und er sich noch dazu von der Übernahme mancher Melodie bis zu seiner Collagentechnik im Songwriting in seiner ganzen Karriere den Angriffen von Plagiatsjägern ausgesetzt war. Diese haben aber weder den Entstehungsprozess eines Folksongs, noch seine große Kunst aus der Art der Zusammenstellung von Zitaten ein neues, eigenes Kunstwerk zu schaffen, verstanden.

Christian Anger: Musik erweitert den Horizont

Auf Walters Beitrag folgt im Buch ein Aufsatz von Christian Anger. Er erzählt von seiner musikalischen Sozialisation in den 90er Jahren im Westerzgebirge. Einmal mehr der Beweis, dass Musik in beengten Verhältnissen den Horizont erweitert und wie wichtig gute Freunde – wie Michi, dem Dylan- und Beatles-Fan – wichtige Instanzen der eigenen musikalischen Sozialisation sind.

Michael Moravek: Dylan, die Waterboys und die Jugend in einer schwäbischen Kleinstadt

Michael Moravek, Foto: Hans Bürkle

Nach dem Feuerwerk der Verknüpfungen und den vielen musikalischen Verweise auf engem Raum der ersten beiden Beiträge, erzielen Michael Moraveks drei Aufsätze dann eine wohltuende beruhigende Wirkung. Im ersten erzählt er von seiner Zeit beim Bob Dylan-Festival in Moville, Irland. Humor- und respektvoll den Menschen dort gegenüber, schildert er wie und warum der kleine Ort zum Epizentrum der Dylan-Freunde auf der grünen Insel geworden ist. Im zweiten Beitrag erzählt er mit einer faszinierenden Sprache, die gleichzeitig lakonisch wie phantasievoll ist, wie ein Song ein ganzes Leben hindurch sich entwickelt bis er eines Tages dann endlich voll da ist. Und im dritten Beitrag kommt Moravek auf seine beiden prägenden musikalischen Einflüsse Bob Dylan und die Waterboys zu sprechen. Wie er uns darstellt, wie er erst die Musik Dylans in der Kleinstadt zwischen Schwäbischer Alb und Schwarzwald entdeckt, ist große Erinnerungskunst und holt uns unmittelbar ab. Dann entdeckt er die Waterboys, die selber wieder einen Dylan-Bezug haben und er hat seinen inneren Kompass als Künstler gefunden. Faszinierend.

Martin Feucht: Popmusikgeschichte der bundesdeutschen Linken

Nach dieser Art Slowtempo-Song von Moravek mit packender Melodie in der Mitte des Buches wird die Geschwindigkeit bei Martin Feucht wieder schneller. Seine autofiktionalen Skizzen, Anekdoten und Geschichten seiner Generation, die zurück bis in die 1960er Jahre reichen sind im Grunde eine soziokulturelle Geschichte der Linken in der bundesdeutschen Provinz. Und es treten wirklich alle auf: Von Degenhardt bis Dylan. Von Schüler und Studentenprotest bis zu DKP und K-Gruppen und alles immer wieder darauf bezogen, welche Musik von wem zu welcher Zeit gehört wurde. Heute nicht mehr vorstellbare Kneipen, Typen und Konflikte bevölkern Feuchts mitreißende Erzählungen.

Günter Ramsauer: Popkultur von Old Shatterhand bis Allen Ginsberg

Günter Ramsauer, Copyright: truth & lies press

Acht Texte steuert Herausgeber Günter Ramsauer zu diesem Buch bei. Die Sprache ist bestens geschult an den Beatniks und die Stücke haben teils lautmalerische Titel wie Rrraow, Aaaaahhh, Päng oder Ahuuh. Und so erzählt er ebenso viel Autobiographisches und verwebt es gekonnt mit der Popkultur der vergangenen Jahrzehnte. Von den „Old Shatterhand“ und den „Rauchenden Colts“ (Marshal Dillon!) über die WM 1974 bis zu JFKs Ermordung, Allen Ginsberg und Dylans „Murder Most Foul“.  Ein würdiger Abschluss eines Buches, das man mehrmals lesen muss, um all die vielen Details und Verästelungen wahrzunehmen.

Fazit: Eine grandiose, funkensprühende Komposition. Ein Buch, das so vieles beinhaltet, das jeden bewegt, der sich etwas tiefergehender mit Musik beschäftigt. Manchmal ist es vielleicht zu viel der Fülle von Wissen über Bands und Songs. Aber das wäre zu viel Krittelei angesichts der lesenswerten Perspektiven auf Popmusik und deren persönlichen Rezeptionen, die vielen neu und gleichzeitig gut bekannt sein dürften: Weil sie etwas mit uns selbst zu tun haben.

Günter Ramsauer (Hg.), Heino Walter, Christian Anger, Michael Moravek, Martin Feucht, Pop steht Kopf, Esslingen 2023. 15,99 Euro im Buchhandel.

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