Baby Let Me Follow You Down

Bob Dylan, Dave van Ronk und die Folk-Szene in New Yorks Greenwich Village der frühen 60er Jahre.

Von Richard Limbert

Vorbemerkung: Ich freue mich, erstmals auf dem Cowboyband Blog einen Gastautor begrüßen zu können. Richard Limbert aus Leipzig ist Musikwissenschaftler, Popularmusikforscher, Journalist und Singer-Songwriter. Er hat sich ausführlich mit dem Folk-Netzwerk im New York der 1950er und 1960er Jahre beschäftigt und schreibt heute hier zum Thema Dylan und Dave van Ronk. Richard wird hier künftig immer wieder einmal publizieren. Viel Spaß bei seinem lesenswerten Artikel!
Herzliche Grüße, Thomas Waldherr

„The Folk-Process“.

Dave van Ronk, Copyright: Wikimedia Commons

Als geflügeltes Wort taucht diese Bezeichnung in den Quellen um Folk-Musiker des Folk-Revivals der 60er regelmäßig auf. Auch im Kontext von Bob Dylan. Durch den Musikwissenschaftler Charles Seeger (Pete Seegers Vater) geprägt, bezeichnet dieser Ausdruck das Aneignen, Verändern und Anreichern von überlieferten Musikstücken. Jedem Song wird so wirklich ein eigener Stempel aufgedrückt. In einer Gesellschaft vor Fernsehen und Radio ist es natürlich selbstverständlich, dass in meist nicht schriftgebundenen Musikkulturen, wie der Volksmusik Lieder mündlich weitergegeben wurden. Dabei wurde in der Wiedergabe nicht nur vieles vergessen oder falsch wiedergegeben, auch wurden Liedtexte auf moderne Sprechweisen und zeitgeschichtliche Umwälzungen zugeschnitten. Doch das Konzept setzte sich auch im 20. Jahrhundert in Folk-Musiker-Szenen umgewandelt durch: Im Gegensatz zu den beinahe industriell am Fließband hergestellten Tunes der Tin-Pan Alley gehörte es zum vollkommen normalen Selbstverständnis eines US-Folkmusikers Mitte des 20. Jahrhunderts, alte Folksongs oder auch die Songs seiner Kollegen die eigene Würze hinzuzufügen, Strophen hinzu zu schreiben und musikalisch abzuändern. Eine kulturelle Praxis, die nicht nur musikalische Querverbindungen schafft, sondern auch zwischenmenschliche. Besonders das durch Beat-Poeten, Hipster und Jazzmusiker geprägte Greenwich Village im Westen Manhattans wurde schon ab Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem wahren Herd für die neu-aufkommende, junge Folk-Musik und ließ den musikalischen Melting Pot brodeln. In dieses Netz aus Folkmusik und Folkmusikern tritt ab dem Winter 1960/1961 ein 19-jähriger Musiker aus Minnesota: Bob Dylan. Mit Gitarre, Cord-Mütze und Arbeiterhemd will er es im Big Apple auf die ganz große Bühne schaffen.

Greenwich Village und die Folk-Szene

Ich forsche seit 2016 an den Strukturen der Folk-Musik Szene New Yorks der 50er und 60er Jahre. Bob Dylan ist hier ein wiederkehrendes Motiv im New Yorker Geflecht aus Musikern, Autoren, Malern und Veranstaltern. Die Figur Dylan ist mittlerweile aus der Geschichte westlicher Populärmusik nicht mehr wegzudenken, jedoch zeigt uns die individuelle Biographie des Songwriters aus Minnesota auch, wie Szenen funktioniert haben und teilweise noch immer funktionieren. Aus welchen Backgrounds traten Dylan und Konsorten im New York der 60er Jahre hervor? Wo trafen sich die Künstler dieser Szene um sich auszutauschen? Welche Aktivitäten und gemeinsame Interessen verbanden diese Musiker? Diese Fragen werden in meinen Forschungen bearbeitet und in diesem Text angeschnitten. Die Szene in New York war groß: Phils Ochs, Len Chandler, Patrick Sky, Ramblin‘ Jack Elliott und Peter Stampfel sind nur einige Figuren, die die stark vernetzte Gruppe der Folk-Musiker im Village der 50er und 60er Jahre ausmachten. Wenn man die verrauchten Bars und Coffee Houses im Village der frühen 60er betrat, traf man sicher an jedem Abend mindestens eine dieser Figuren. Bei meiner Kartografierung der Folk-Szene von Greenwich Village in Verbindung zu Bob Dylan ist hier vorerst beispielhaft nur ein Musiker im Fokus: Dave van Ronk.

„The Mayor of MacDougal Street“

Dave van Ronk war in den 50ern und 60ern der inoffizielle Herrscher des Folk-Musiker Netzwerks von Greenwich Village. Mit krausem Löwenbart, hünenhafter Figur und schallendem Lachen thronte er über Straßen des Viertels. Gebürtig aus Brooklyn war er als Teenager bereits in der Jazz-Szene aktiv und fand schnell seinen Weg in die Folk-Clubs von Manhattan. Aus unsteten familiären Verhältnissen kommend quartierte er sich schnell aus der anderen Seite des East River ein und machte sich auf verschiedenen Ebenen einen Namen. Seine Körpergröße von knapp einem Meter neunzig, sein Gewicht von weit über einhundert Kilogramm, gekoppelt mit seiner väterlichen Art, seinem unnachahmlichen Humor und seinem enzyklopädischen Wissen brachte ihm im Village schnell eine große Anhängerschaft. Aus dem Jazz und seiner Kenntnis von US-amerikanischer Kulturgeschichte heraus entwickelte er ein Folk-Repertoire und kannte sich im Blues bestens aus. Seine lustigen und informativen Monologe zwischen seinen Songs und seine Konzerte in den Kellerbars New Yorks waren legendär. Er war außerdem als Rausschmeißer und Go-to-Figure in diversen Bars des Viertels bekannt. Sein Spitzname: „the Mayor von MacDougal Street“ (benannt nach der Hauptstraße im Village). In einem Interview im März 2016 mit seinem Schüler, dem Musikwissenschaftler und Co-Autor der Semi-Autobiografie van Ronks „The Mayor of MacDougal Street: A Memoir“, Elijah Wald, sagte dieser zu mir in Bezug auf van Ronks Präsenz in Greenwich Village:

„Dave was a giant. I mean, Dave was the biggest of that group of that generation. Dave was the biggest star in the Village and the biggest character. And just physically big, I mean he was six feet three inches tall and he weight two hundred-something pounds and he had this huge voice and he had this huge personality and he was the king of that world.“

Für Bob Dylan als Neuankömmling in Greenwich Village im Winter 1961 führte kein Weg an van Ronk vorbei. Und Dylan war sofort völlig vereinnahmt vom König von Greenwich Village. Er imitierte ihn stilistisch, lernte seine Songs, nahm sogar teilweise seinen Kleidungsstil an. In einem frühen Interview hört man Dylan sagen, dass es sein Traum wäre, einmal so bekannt zu werden wie Dave van Ronk. Und in seinem Chronicles Vol. I beschreibt Dylan selbst van Ronk folgendermaßen:

Bob Dylan Anfang der 1960er Jahre, Copyright: Wikimedia Commons

„In Greenwich Village, Van Ronk was king of the street, he reigned supreme. He came from the Land of giants.“

Und van Ronk nahm Dylan von vornherein gerne unter seine Fittiche. Er sah im jugendlichen, schmächtigen Neuankömmling eine Menge Potential, seitdem er ihn zum ersten Mal –  auf Hinweis eines Freundes hin – in einem Folkclub live spielen hörte. Dylan war anfangs im Village jedoch nur einer von vielen.

Hierzu weiß Terri Thal viel zu berichten. Terri Thal war im Village Managerin für diverse Folkmusiker und Kunst-Promoterin. Jedoch war sie auch bis 1968 die Ehefrau Dave van Ronks und vor Albert Grossman die Managerin Dylans. Im Gespräch mit ihr in New York erzählt sie mir, dass Dylan als junger und etwas schüchterner, aber extrem zielstrebiger Musiker aus dem ländlichen Minnesota in den Big Apple kam. Wie Ramblin‘ Jack Elliott und Phil Ochs kam auch Dylan als Asphalt-Cowboy aus einer US-amerikanischen jüdischen Middle-Class Familie, hatte die Cowboy- und Farmer-Musik der USA regelrecht gefressen und kannte sich auch mit den Schriften Brechts, Kerouacs und Rimbauds aus. Eine explosive Mischung, die im New York der Beat-Poeten und später weltweit zu einer musikalischen Revolution führen sollte. Aber noch war laut Terri Thal Dylan nur einer von vielen ländlichen, Middle-Class Jungs, die es in New York zum Durchbruch versuchten:

„He was desperate. He was just a little boy. He was this kid who came to new York. […] He was not – quote – Bob Dylan. He was another kid who was hanging ‚round the village like everybody else trying to get heard.“

Dylan: Mehr als „just a kid“

Doch gerade diese Sicht von außen brachte Dylan Vorteile. Während gebürtige New Yorker im gewohnten Umfeld täglich musikalisch Eulen nach Athen trugen und recht schnell mittelgroßen Anklang fanden, waren die kleinen, unbekannten Außenseiter vom Lande bereits durch Zielstrebigkeit und Starrsinn bis in die Metropole New York gekommen. Flexibilität haben sie damit also schon bewiesen und waren schnell bereit neue Modeströmungen aufzunehmen, ungewohnte künstlerische Mixturen zu schaffen und alte Denkmuster abzuwerfen.

Die Folk-Szene im New York der frühen 60er Jahre war jedoch weitaus mehr als nur eine Ansammlung einzelner Musiker und Auftrittsorte. Es gab viele Verbindungen zu Autoren (der Krimiautor Lawrence Block war gut mit van Ronk befreundet), gemeinsame außermusikalische Interessen, wie Science-Fiction Literatur und diverse andere Vereinigungen. Van Ronk war hier durchaus besser vernetzt als Dylan. Er war nicht nur schon viel länger im Viertel unterwegs, sondern schloss sich auch (im Gegensatz zu Dylan) schnell diversen politischen Vereinen an. Dave van Ronk war Mitglied mehrerer anarchistischer und kommunistischer Gruppen und politisch ein Fixpunkt. Terri Thal beschreibt ihn politisch als „some kind of leading figure“ in der Szene im Village. Van Ronk formte 1957 eine Gewerkschaft für Folkmusiker und war fest eingespannt in der Redaktion des New Yorker Folk-Magazins Caravan. Wie bereits gesagt: Dave van Ronk war zwar als „Mayor of MacDougal Street“ ein beispielloser Akteur im Village der 50er und 60er, trotzdem lebte die Szene vor allem vom persönlichen Miteinander und dem Vermischen gegenseitiger Repertoires und Angewohnheiten. Dylan spielt in seinem Debütalbumalbum „Baby Let Me Follow You Down“ ein und erzählt im Intro sogar, dass er den Song von Eric Von Schmidt gelernt hat. Bob Kaufman summt van Ronk in einer Kneipe die Melodie zu „Green Rocky Road“ vor und Lawrence Block schreibt einen Thriller, in dem er van Ronks Texte zum Schlüsselabschnitt in der Lösung eines Mordfalles vorkommen lässt. Dylan nimmt einige Titel seines Vorbilds van Ronk in sein Repertoire: He was a Friend of Mine, Poor Lazarus, House of the Rising Sun. Dave van Ronk nimmt „Baby Let Me Follow You Down“ unter dem Titel „Baby Let Me Lay It On You“ ebenfalls in sein Repertoire auf. Wenn noch Jahre später van Ronk „He was a Friend of Mine“ live spielte, leitete er den Song gerne mit dem Spruch ein: „A song I learned from Bob Dylan, who learned it from Eric Von Schmidt who learned it from me.“ Das musikalische und persönliche Miteinander war essentiell.

Van Ronk als Vorbild, Vaterfigur und Lehrer Bob Dylans

Copyright: Prestige/Fantasy Records

Doch auch in solchen prinzipiell gleichberechtigten Gesellschaften kann es einen König geben. Dave van Ronk ist hier als zwar gleichwertiges Mitglied und trotzdem stabilisierender Punkt der Szene zu sehen. Van Ronk war seit den späten 50ern mit Terri Thal verheiratet und die beiden hatten eine eigene Wohnung (im Hipster New York unter Musikern damals eine Seltenheit). Diese Wohnung wurde zum bevorzugten Ort für Hootenannies, dem Vorspielen neuer Songs und anderer Jamsessions, wenn die Folk-Clubs nachts schlossen. Van Ronk (*1936) war ein paar Jahre älter als die meisten jüngeren Folkmusiker im Village und durch seinen Status als bereits Verheirateter mit eigener Wohnung wurde er schnell als gesetztes Urgestein und Vaterfigur betrachtet, der im Village den Ton angab und die Szene überblickte. Die Rolle von Auftrittsorten für Folk Musiker im New York der 50er und 60er ist zwar nicht Fokus dieses Textes, aber allein der physische Raum für die Entwicklung von Folk wurde durch van Ronk gestellt, was einen psychischen Eindruck auf die Musiker der Szene hinterließ. Ein Besuch bei van Ronk blieb damals sicher im Gedächtnis. Die Wohnung war voller afrikanischer Statuen, historischer Möbel und zahlloser Bücherregale, aus denen die großen Werke der Weltliteratur nur so hervorquollen. Bob Dylan als großer Literaturfan ließ sich von van Ronk oft zu Literatur beraten und van Ronk zeigte Dylan einige neue Songs. Dieses Schüler-Lehrer Verhältnis, das allerdings nur wenige Jahre anhielt, ist hier maßgebend für die Entwicklung der beiden Musiker.

Dave van Ronk war bereits als Vaterfigur der Szene niedergelassen als Dylan auf ihn traf. Van Ronk war ein redseliger Zeitgenosse, der sein Wissen mehr als gerne preisgab, sehr neugierig war, gerne kochte, gerne trank, gerne rauchte und seinen Alltag im Normalfall lesend mit Kaffee und Joint im Ohrensessel verbrachte. Er kam in seinem Leben nicht wirklich oft aus New York heraus und genoss eher seine Rolle als Insider der Folkszene. Bob Dylan hingegen war sich schon früh bewusst, wie man sich interessant, mysteriös und rar macht. Dylan war bereits als Teenager hochgradig belesen und kannte die meisten Bücher sogar bereits, die van Ronk an ihn weitergab. Bob Dylan war von vornherein dem Showmanship zugänglich und hat hier den fruchtbaren Boden von Dave van Ronk hervorragend als Futter für seine spätere Weltkarriere nutzen können. Elijah Wald legt es im Interview recht eindrücklich dar:

„He [Dylan] was the guy who doesn’t care. […] And that’s not about the music, that’s about wanting to be ‚that guy‘. […] And that was very different from Dave. I mean Dave was a quiet guy who liked to sit in his apartment and read books and discuss books. And he drank a lot and he smoked a lot of dope. You know, he was married. And he was not ‚that guy.’“

Like A Rolling Stone: Dylan moves on

Copyright: Columbia Records

In dieser kleinen Exkursion zu Bob Dylan und Dave van Ronk fällt schnell auf, dass Szenen recht komplexe Strukturen sind. Es scheint, dass sie mehr sind als nur eine Ansammlung von Menschen mit identischen Interessen. Vor allem in einer Metropole wie New York ist eine Szene nie hermetisch. Die Folk-Szene im Greenwich Village der 50er und 60er war mehr als nur Folk. Verbindungen zu Science-Fiction und Krimiautoren, Ethnologen, Aktivisten und Dichtern waren stetig und wichtig. Jeder sah an den wichtigen Treffpunkten Mitglieder verschiedener Professionen und verfolgte die Biografien und Stile seiner Nachbarn. Die Jazz-Szene in Greenwich Village beispielsweise ist musikhistorisch vielleicht sogar wichtiger als die Folk-Szene. Van Ronk und Dylan wussten, dass während sie gerade ihren Gig im Gaslight Café spielen, nebenan im Blue Note Charles Mingus und Dizzy Gillespie den Ton angaben. Das darf man in der Betrachtung solcher Szenen nicht außer Acht lassen. Folk ist kein einfach zu umreißender musikalischer begriff und das zeigt sich hier ganz wunderbar. Van Ronk selber hat sich eher ungern als „Folk Singer“ betitelt und Jazz und Folk lassen allemal Überschneidungspunkte zu.

Schlussendlich sieht man, dass immer wenn man Musiker analysiert auch immer Netzwerke sieht. Wenn man aber auf Netzwerke blickt, sieht man immer auch einzelne Biografien. Ein Akteur ist eben nicht nur eine Schachfigur, ein Pawn in their Game, sondern immer auch mehrdimensional. Dylan folgte van Ronk in stilistisch quasi jedem Aspekt vom Anfang 1961 bis spätestens Ende 1962. Danach war van Ronk in Dylans Leben kaum noch Präsent. Andere Einflüsse bestimmten nun das Leben von Bob Dylan. Und diese stetige neue Mixtur und neue Kontextualisierung macht die Forschung zu einer Figur zu einer endlos ergiebigen Aufgabe. Bob Dylan ist so durch unendlich viele Blickwinkel zu erkennen und die Verbindung zu anderen Akteuren decken immer wieder neue Teilaspekte um das Phänomen „Bob Dylan“ auf.