Von Paycheck zu Paycheck

„Nomadland“ zeigt die ungeschminkte Working Class-Wirklichkeit der USA und lässt Frances McDormand erneut in einer Charakterrolle brillieren. Zum filmischen Erfolg trägt auch ein kluger Soundtrack bei.

Copyright: Walt Disney Company

Wir kennen sie aus Fargo, sie hat in jüngster Vergangenheit alleine den Film „Three Billboards outside Ebbing, Missouri“ getragen und sehenswert gemacht. Und nun „Nomadland“: Keine andere Schauspielerin gibt den Frauen der amerikanischen Working Class solch ein glaubwürdiges, ebenso stoisches und herbes, und doch empfindsames Gesicht wie Frances McDormand, längst eine der ganz großen Charakter-Darstellerinnen des US-amerikanischen Films. Jede Sekunde nimmt an ihr Fern ab, die sich als Arbeitsnomadin quer durch die USA von Paycheck zu Paycheck hangelt. Nevada, Kalifornien, South Dakota, Nebraska und Arizona heißen die Stationen ihrer USA-Reise. Erst Pakete packen bei Amazon, dann den Campingplatz beaufsichtigen, dann in die Burgerbraterei und dann wieder zu Amazon. Längst ist das, was aus der Not geboren wurde, zum Leben geworden. Ein Leben, immer auf der Straße, dem nächsten Job hinterher.

Land der unbegrenzten Würdelosigkeit

Und neben ihr – und manchmal auch mit ihr – unzählige Andere. Das ist aus dem Amerika der unbegrenzten Möglichkeiten geworden. Ein Land der unbegrenzten Würdelosigkeit. Hire und Fire und befristete Jobs für die im Maschinenraum der Gesellschaft, die auf den Sonnendecks verschiedenster Kategorien gar nicht mehr wahrgenommen werden. Wer als Banker, Anwalt oder IT-Mensch an den Küstenstreifen lebt, der ist weit weg von den Problemen der Menschen im Heartland, dem Fly-Over-Country. Das Desinteresse der liberalen Eliten an diesen Menschen und ihren Problemen – wir haben es an dieser Stelle des Öfteren benannt – war eine der Ursachen für das Entstehen des Trumpismus als Massenbewegung.

Es hat lange gedauert bis die soziale Frage als drängendes Problem der amerikanischen Gesellschaft wieder auf die politische Agenda gekommen ist. Literaten wie Joey Goebel oder Daniel Woodrell haben in ihren Büchern über das Leben der Menschen im Heartland oder dem White Trash im Süden geschrieben. Und ich erinnere mich an den Film „Bombay Beach“, der 2012 über die armen und von Niederlagen gezeichneten Menschen berichtete, die an einem Salzsee ihre Domizil gefunden hatten und eine traurig-skurrile und doch überraschend optimistische Gemeinschaft bildeten.

Trotz aller Widrigkeiten haben selbst diese Underdogs – die in Bombay Beach am See und die in Nomadland auf der Straße – den amerikanischen Traum, den Empirie und Wirklichkeit schon zigmal widerlegt haben, noch nicht aufgegeben. Der Unterschied ist jetzt: War der nun fast 10 Jahre alte Film „Bombay Beach“ in den USA von Obama ein Nischenprodukt, so kommt Nomadland quasi als cineastische Begleitung der Biden-Präsidentschaft in die Öffentlichkeit und flankiert die größte öffentliche Investitionspolitik in Amerika seit Franklin D. Roosevelt als Oscar-Gewinner. Der Trumpismus ist noch lange nicht geschlagen, aber es gibt wieder Hoffnung.

Ein kluger Soundtrack

Neben der großartigen schauspielerischen Leistung von Frances McDormand und dem aus Schauspielern und Laien gemischten Ensemble und der fast beiläufigen und daher genialen Regieleistung von Chloé Zhao, ist der Soundtrack eine vielleicht unterschätzte Größe, die zum Gelingen des Films beiträgt. Erhältlich ist eine eingeschränkte Version auf CD, die vor allem von Ludovico Einaudis als Score benutzte, von Alpenwanderungen inspirierte meditative Musik fußt. Vielleicht eine der wenigen Elemente des Films, wo lyrische Kunst, die am Realismus orientierte prosaische Kunst übertrumpft. Aber hier ging es der Regisseurin um die Kategorie der Natur, mit deren Zyklus das Arbeitsnomadenleben natürlich verwoben ist.

Copyright: Decca (Universal Music)

Doch der Film kommt ohne die Musik der amerikanischen Working Class nicht aus. Und das ist im Heartland, im Süden und Südwesten und auf der Straße noch immer die Countrymusik. Und so finden sich Klassiker wie „It Was Go Who Made Honky Tonk Angels“ von Kitty Wells genauso in den Musikeinspielungen des Films wieder wie Lynn Andersons „Rose Garden“ oder Willie Nelsons „On The Road Again“. Dazu hier und da musikalische Auftritte von lebens-gegerbten Alternative-Countryhelden im Roadhouse. Die Countrymusik als Musik der amerikanischen Working Class, samt ihres selbstbewussten weiblichen Teils, das ist ein wirkungsvolles Stilelement dieses Films.

Zeugnis des neoliberalen Irrwegs

Und so entfacht dieser Film eine Wirkung. Er stellt die Dinge einfach dar, wie sie sind. Und zeigt damit eindringlich, wie unwürdig und fragil die Lebensumstände dieser Menschen sind. Es bleibt zu hoffen, dass der Kapitalismus neoliberaler Prägung in den USA wieder überwunden werden kann. „Nomadland“ ist ein bemerkenswertes Zeugnis dieses amerikanischen Irrwegs.

Die Musik

Full Score:

https://www.imdb.com/title/tt9770150/soundtrack

Original Soundtrack: