Ohne „kulturelle Aneignung“ kein Fortschritt und keine Popmusik. Und auch kein Bob Dylan. Ein Plädoyer für eine differenzierte Betrachtung

Der wegen angeblicher negativer kultureller Aneignung abgebrochene Auftritt der Schweizer Reggae-Band „Lauwarm“ ist einer der viralen Aufreger der Woche. Ist das „die Unterdrückung verlängernde Besitzergreifung fremder Kultur“ durch den weißen Mann? Dürfen weiße Musiker keinen Reggae spielen und Rasta-Locken tragen?
Klar, dass das wieder die altbekannten Wutbürger auf die Palme bringt. „Man darf ja gar nix mehr. Scheiß Political Correctness. Freiheit!“ usw. Und auf der anderen Seite drängen diejenigen nach vorne, die sagen, wer sich rassistisch beleidigt fühlt, ist im Recht, und dann muss die ihn empörende Handlung/Aussage auch rassistisch gewesen sein. Und wieder andere Zeitgenossen der Generation, die mit Reggae, Rock und Blues aufgewachsen ist, sind einfach nur ratlos und genervt, ob solcher aktuellen Konflikte.
Abgesehen davon, dass reine Subjektivierung von Problemen noch nie etwas gebracht hat, sind wir hier bei der Band „Lauwarm“ genau wieder beim Problem der Identitätsdebatten. Den Schweizer Musikern gefällt scheinbar die Reggae-Kultur so sehr, dass sie diese auch als Weiße zumindest musikalisch und im Outfit übernehmen.
In Kostüme schlüpfen
Nachahmung, Übernahme von Kleidung, Haltung und Verhalten anderer ist eine wichtige Kulturtechnik. Die spielt in Bildung und Erziehung und Schauspiel eine Rolle, denn durch Nachahmung lernt der Mensch, probiert sich aus und lernt Identitäten kennen. Wenn Kinder Cowboy und Indianer spielen, dann sind die Kostüme nicht das schlimme, sondern die Geschichten, die dabei gespielt werden. Wenn also nur das böse Klischee der einfältigen und/oder gefährlichen Rothaut und des wackeren und tapferen Cowboys gespielt würden, wäre das grausam. Aber welches Kind, das Anerkennung sucht, schlüpft freiwillig in die Rolle des Prügelknaben und Bösewichts? Als ich Anfang der 1970er Jahre in der Schule zur Fastnacht als Indianer ging, da orientierte ich mich an den guten Vorbildern der edlen Indianer, dem Comic-Held Silberpfeil und natürlich an unserem liebsten deutschen Winnetou und referierte wie selbstverständlich meine angebliche Stammesherkunft. Unsere Grundschullehrerin, der ich viel zu verdanken habe, griff dies sehr gut auf und wies auch hier ganz selbstverständlich darauf hin, dass alle Menschen gleich sind. Von ihr lernten ihr Toleranz und Demokratie. Und wir lernten aus Comics und Büchern das Interesse an den Indianern. Bis heute sind in Massen abgeschossene Indianer in Filmen für mich schwer erträglich. Gerade weil ich in ihr Kostüm schlüpfte?
Das alles ist nicht zu verwechseln mit „Blackfacing“, das dazu diente schwarze Menschen zu verspotten und zu verhöhnen. Diese Technik ist zurecht ausgestorben und es gibt an Theatern oder Oper gar keinen Grund schwarze Rollen mit weißen Schaupieler:innen oder Sänger:innen zu besetzen. Wer das immer noch macht, hat den Schlag nicht gehört.

Eine Bühne für afroamerikanische Musiker
Zeitsprung: Anfang der 1960er war der Höhepunkt des Folk Revivals. Die junge, weiße urbane Studentengeneration entdeckte die kulturelle Ausdrucksform der armen afroamerikanischen Südstaatler für sich. Sie sah sich selber unverstanden und fremd in einer Welt von Konsumismus, Konformismus und Kriegen und hörte da eine Musik, die ebenfalls vom Leid erzählte. Sie eignete sie sich an und gleichzeitig brachte sie die schwarzen Bluesmusikerinnen und -musiker wieder oder auch erstmals in die Öffentlichkeit. Aus der Musik einer Community wurde erst eine schichtenübergreifende und später eine globale Musikkultur. Die Rolling Stones, Alexis Korner und Eric Burdon entdeckten Rythm & Blues für sich. Doch neben ihnen hatten jetzt auch Muddy Waters, Howlin Wolf oder Sister Rosetta Tharpe die Möglichkeit eine breite Öffentlichkeit für ihre Musik zu finden. Horst Lippmann und Fritz Rau brachten die schwarzen Künstler:innen nach Europa und die fühlten sich dort wohler als in den US-Südstaaten.
Auch Bob Dylan begeisterte sich früh für die afroamerikanische Musik. Er hörte Little Richard und Chuck Berry und besuchte den einzigen schwarzen Radio-DJ der Gegend voller Ehrfurcht. Später brachte ihn die schwarze Sängerin Odetta zur Folkmusik. Und dort in der Folkszene ging er ganz selbstverständlich mit den schwarzen Kolleginnen und Kollegen um. Von Harry Belafonte bis Mavis Staples. Er spielte und schrieb Bluessongs und Protestsongs. Er setzte Emmett Till, Medgar Evers, Hattie Caroll, George Jackson, Rubin „Hurricane“ Carter – allesamt Opfer des rassistischen Amerikas – Songdenkmäler. Kulturelle Appropriation? Sicher nicht. Eher Diebstahl aus Liebe. Was ohnehin das Wesen des Folk wie jeder populären Musik ist. Und Bob Dylan stand und steht an der Seite der Schwarzen.
Vermischung trotz Jim Crow
Wenn die frühen Countrystars wie A.P. Carter, Jimmie Rodgers, Bill Monroe oder Hank Williams in den 1930er und 1940er Jahren ihre auch kommerziell erfolgreiche Musik spielten, so war das ohne die direkten oder mittelbaren Einflüsse afroamerikanischer Musiker gar nicht denkbar. Von ihnen lernten sie fast alles. Doch diese Generation von weißen Südstaatlern war noch gefangen im Jim Crow-System. Als der frühe afroamerikanische Countrystar DeFord Bailey starb, da kam auch Bill Monroe zur Beerdigung. Den rassistisch motivierten Rausschmiss von Bailey aus der Grand Ole Opry verhinderten er und seine weißen Kollegen aber auch nicht. Ihre Karrieren gründeten sich objektiv gesehen auf der Besitzaneignung afroamerikanischer musikalischer Stile und Fertigkeiten ohne eine wirklich entsprechende Gegenleistung für die weiterhin einer repressiven weißen Gesellschaft unterworfenen schwarzen Musiker. Auch wenn die weißen Musiker subjektiv gesehen oftmals mit diesen befreundet waren. Schwierige Zeiten und es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Trotzdem ist diese Musik absolut hörenswert und hat eine Daseinsberechtigung.
Ausbeutung durch die Discomaschine
Denke ich an kulturelle Appropriation, also repressive, besitzergreifende kulturelle Ausbeutung, dann denke ich an Boney M. Die 1970er Disco-Pop-Gruppe wurde von dem weißen deutschen Musikproduzenten Frank Farian so zusammengestellt, dass sie alle Klischeevorstellungen von Weißen über Schwarze erfüllte. Drei junge, attraktive dunkelhäutige Frauen umgarnen einen schwarzen, potenten Macker. Dabei wird unverhohlen karibisches, westafrikanisches oder afroamerikanisches Liedgut in Farians Disco-Maschine so verwurstet, dass scheinbar internationale deutsche Popmusik entsteht. „Daddy Cool“, „Ma Baker“ oder „Rivers Of Babylon“ waren nicht der Ausdruck selbstbewusster schwarzer Erzählungen, sondern die von Farian so zusammengedrechselten Versatzstücke schwarzer Überlieferung, dass uns die Schwarzen als Puffmütter, umtriebige Gauner, lustige Gesellen oder arme Hascherl nahegebracht wurden. Farian nahm für den schönen Schein und für die Abhängigkeiten der Künstler ihm gegenüber dabei in Kauf, dass nur wenige wirklich singen konnten und ihre Gesangsparts von anderen eingesungen wurden. Er verdiente prächtig, die Künstler:innen mäßig dabei.
Absichten und Umstände von kultureller Aneignung
Es ist also nicht die Verwendung von Kostümen, Kultur und Musik per se das Problem von kultureller Appropriation, sondern Absicht und Umstände. Wenn auf Folk- und Bluesfestivals weiße wie schwarze Musiker:innen ganz selbstverständlich miteinander musizieren, Weiße Bluesmusik spielen und Schwarze Countrymusik, dann steht das Verbindende von Musik im Mittelpunkt. Denn über die Grenzen der repressiven Jim Crow-Gesellschaft hinweg mischten sich Musikstile und Genres. So entstand große Popmusik. Wenn aber aus kommerziellen Gründen afroamerikanische Ausdrucksformen in für weißes Empfinden gängig gemachten Formen und Erzählungen präsentiert werden, dass ist das in der Tat eine verwerfliche Form von Besitzaneignung, Ausbeutung und Rassismus.
Es gibt aber auch die Grautöne. Ich habe hier vor kurzem über den neuen Elvis-Film berichtet. Er rückt die afroamerikanischen Vorbilder und Einflüsse von Elvis wie Big Mama Thornton, Arthur Crudup oder B.B. King stärker in den Fokus. Selbstbewusste und meinungsstarke schwarze Künstler:innen wie Yola oder Gary Clark Jr. haben deswegen aus Überzeugung mitgemacht. Elvis ging ganz selbstverständlich mit den Schwarzen um, begeisterte sich für ihre Musik. Und trotzdem: Die von Colonel Parker aufgebaute Geldmaschine Presley war auch eine Form der Besitzaneignung und in Presleys Hofstaat waren nur weiße Menschen zu sehen. Und gleichzeitig arbeitete er mit schwarzen Musiker:innen auf der Bühne zusammen. Elvis Presley – ein Leben voller Widersprüche. Ein Förderer schwarzer Musik und ein Nutznießer gleichermaßen.
Fazit
Merke: Das Thema „Kulturelle Aneignung und die Ereignisse um „Lauwarm“ taugen nicht für pseudo-kulturelle Grabenkriege. Sie sollten aber der Auftakt für eine differenzierte und dialogische Betrachtung des Phänomens sein, dass Menschen sich für fremde Kulturen begeistern und in Kostüme schlüpfen und sich fremde musikalische Ausdrucksformen aneignen. Wie sollen Menschen zueinander finden, wenn sie nicht auch mal in andere Rollen schlüpfen? Wenn dabei jemand übers Ziel hinausschießt, dann sollte man lieber miteinander reden als verbieten. Das Einende sollte immer im Mittelpunkt stehen.
So richtig und wichtig Anti-Rassismus ist, er darf aber nicht zu einer Symbol-Politik werden, die die wirklichen rassistischen Verhältnisse und die daraus abgeleiteten Macht- und Wirtschaftsverhältnisse ausblendet und unangetastet lässt. Es ist halt leider schwieriger gegen kapitalistische und rassistische Ausbeutungsverhältnisse im hiesigen Niedriglohnsektor und in der Dritten Welt vorzugehen, als eine weiße Reggae-Band von der Bühne zu verweisen. Es macht aber sicher mehr Sinn, oder?
31. Juli 2022 um 10:56 am |
Es hat mir große Freude gemacht diesen Beitrag zu lesen. Vielen Dank für die Unterstützung beim Ordnen meiner Gedanken. 😉 Die Auswahl der Beispiele im Text finde ich sehr gelungen.
31. Juli 2022 um 2:10 pm
Vielen Dank! Schön, dass der Artikel Ihnen gefallen hat!
30. Juli 2022 um 2:57 pm |
Vielen Dank für diese wohltuend differenzierte Betrachtung. Man könnte auch sagen: Bob Dylan hören macht schlau :-), obwohl diese These nicht beweisbar ist.
30. Juli 2022 um 3:15 pm
Danke für die freundlichen Worte. Irgendwie hat Dylan mich schon schlauer gemacht. Durch ihn habe ich ganze Welten entdeckt. Country, Blues, Bluegrass, Old Time Music. Woody Guthrie, Jimmie Rodgers, die Carter Family, The Anthology of American Folk Music, Amerika als solches und und und. 🙂
30. Juli 2022 um 10:31 am |
So viel pseudointellektes bla bla für ein stupides, unnötiges völlig aufgebauschtes Thema, das man am besten mit einem kurzen Statement beerdigt!
„Fickt Euch doch ins Knie!“
30. Juli 2022 um 1:17 pm
Mal abgesehen von der blöden und platten Anmache, Herr Bobby Leiser: So einfach wie Sie sich das machen ist es leider nicht. Das Thema „Kulturelle Aneignung“ wird im Rahmen der antirassistischen Bewegung breit diskutiert und das Argument findet viel Anhängerschaft. Daher musste ich etwas schreiben und habe dazu länger ausgeholt. Wenn Sie schon alles wissen, müssen sie es ja nicht lesen.