Bob Dylans unterhaltsame Songdeutungen

Das neue Buch des Literatur-Nobelpreisträgers und legendären Singer-Songwriters ist geistreich, humorvoll, waghalsig und oftmals verblüffend/ Talk und Musik zum Buch am 18. November in Darmstadt

Copyright: C.H. Beck

Dieser Mann hört auch mit 81 Jahren nicht auf zu überraschen und zu verblüffen. Seine mehr als sechzig „Riffs“ (Einfühlungen) und Essays (Abhandlungen) zu Songs aus Blues, Country, Rock, Soul und Swing – kongenial ins Deutsche übersetzt von Conny Lösch – sind so waghalsig, so wortreich, so verspielt, aber auch so meinungsstark, dass es eine wahre Freude ist. Der 352-Seiten starke Foliant ist eine wahre Fundgrube. Und was ganz wichtig ist: Nach der Lektüre ist man immer schlauer.

Noch immer hat er es drauf. Mit wenigen Bildern, in nur ein paar Sätzen bringt Bob Dylan gesellschaftliche Zustände auf den Punkt. Der Altmeister ist in diesem Buch alles andere als kryptisch oder sphinxhaft, was man ihm nur allzu gern immer wieder vorwirft. In Gegenteil. Es zeigt sich hier erneut: Der Alte ist viel näher an der Welt, als manche Kritiker, aber auch so manche Jünger es wahrhaben wollen. Vier Beispiele nach einem ersten Einblick ins Buch und der Lektüre einige dieser Essays und Riffs.

Die Verlogenheit der Heimatsehnsucht

„ALS DER SONG ENTSTAND, WAR DETROIT ein angesagter Ort. Neue Jobs, neue Hoffnungen, neue Gelegenheiten. Autos rollten vom Fließband direkt in unsere Herzen. Seither befindet sich die Stadt wie so viele andere amerikanische Städte auf einer Achterbahnfahrt zwischen Überfluss und Abstieg.“

So historisch-kritisch beginnt der allererste Essay im Buch zu Bobby Bares „Detroit City“. Im Riff fühlt er sich vorher in einen Menschen ein, der vom Land aufgebrochen ist in die große Stadt, um es dort zu etwas zu bringen. Er schreibt seinen Lieben daheim, wie hat er dort arbeitet. Im Essay räumt Dylan mit den Illusionen auf.

„Es gibt keine Mutter, keinen lieben alten Vater, keine Schwester und keinen Bruder. Sie sind alle entweder tot oder gegangen. Das Mädchen, von dem der Sänger träumt, ist längst mit einem Scheidungsanwalt verheiratet und hat drei Kinder mit ihm bekommen. Wie tausende andere verließ er die Farm, zog in die Großstadt, um es zu etwas zu bringen, und ging dort unter.“

Ebenso wie Dylan in „Detroit City“ die Lage der Städte des Rustbelts schonungslos wiedergibt, stellt er aber auch dar, dass aber auch die früheren Aufstiegsträume sehr oft zur Enttäuschung führten, weil es eben zum amerikanischen Traum auch gehört, dass es viele nicht schaffen.

Pat Boone weiß mehr als Elvis

Copyright: Legend Records

Dass er mehr von der amerikanischen Musik versteht, als viele andere, ist mittlerweile bekannt, aber wie er es hier beweist, ist vom aller feinsten. An dieser Stelle hat der Chronist ja vor wenigen Tagen Jerry Lee Lewis gewürdigt, und die Quellen dessen Rock’n’Roll-Extase in den Pfingstlergottesdiensten im Süden gefunden. Jerry Lee ist quasi das weiße Pendant vom Little Richard. Denn über den schreibt Dylan in seinem Buch:

 „A-WOP-BOP-A-LOO-BOP-A-WOP-BAM-BOOM. Little Richard sprach in Zungen, lange bevor irgendwer gemerkt hat, was los war. Er hat das Sprachgebet direkt aus dem verschwitzten Zeltgottesdienst geholt und ins Mainstream­Radio gebracht, hat geschrien wie ein geweihter Priester – und genau das war er ja auch. Little Richard ist der Meister der Zweideutigkeit.“ Denn „Tutti Frutti ist im Slang eine „Schwuchtel“, ein homosexueller Mann, ansonsten auch der Name einer Eissorte. „Ein Mädchen namens Sue und eins namens Daisy, beide sind sie Transvestiten“, behauptet Dylan. Und fragt: „Wer hat Elvis bei Ed Sullivan «TuttiFrutti» singen sehen? Ob er wusste, wovon er da singt? Ob Ed Sullivan es wusste? Oder wussten es beide? Von allen, die «Tutti Frutti» gesungen haben, war Pat Boone wahrscheinlich der Einzige, der kapiert hat, worum es ging. Pat versteht auch einiges vom Sprechen in Zungen.“

Wie er hier darstellt, wie im Rock’n’Roll die religiös-lautmalerische Ausdruckform der Fundamentalisten („in Zungen sprechen“) mit sexuellen Konnotationen versehen in den Rock’n’Roll überführt wird ist ganz großes Kino. Und dass noch nicht mal „Elvis, the pelvis“ wusste, wofür „Tutti Frutti“ stand, wohl aber der frühere Harmlos-Popsänger und heutige fundamental-evangelikale Prediger Pat Boone ist die böse Pointe dieses Riffs.

Jimmy Reed und der oberste Oligarch

Wie sehr sich Dylan im hier und jetzt befindet zeigen auch Riff und Essay zu Jimmy Reeds „Big Boss Man“. Der afroamerikanische Bluesmusiker wurde vom Meister auf seinem letzten Album „Rough And Rowdy Ways“ gewürdigt und dieser Song „Goodbye Jimmy Reed“, ist mittlerweile auch ein Höhepunkt seiner Konzerte. Hier erzählt er also über den großen Boss. Und im Riff zum Song kommt Dylan ins Fabulieren:

„Gewerkschaften, Aufstände, Revolten, leere Drohungen – auf so was achtest du gar nicht, du lässt das alles laufen, stehst drüber. Du bist der riesenhafte Zyklop – du befindest dich auf der richtigen Seite der Geschichte. Der oberste Oligarch, der Generalissimo, der omnipräsente Overlord, der die gesamte Welt wie Butler und Zimmermädchen behandelt. Du bist ein Mann von hohem Ansehen.“

Besser kann man diese Leute kaum beschreiben: Die Elon Musks, Donald Trumps, Bolsonaros und Putins dieser Welt.

Im Essay widmet er sich voll und ganz Jimmy Reed. Für ihn ist Reed kein Chicago-Blues, sondern elektrifizierter Country-Blues. Und er charakterisiert ihn wunderbar selbstironisch.: „Er spielt Mundharmonika auf einem Halter. Aber mit einer Mundharmonika auf einem Halter kann man nicht allzu viel anstellen. Er hat es trotzdem hingekriegt und ist bis heute darin unübertroffen“, sagt der Mann dessen Mundharmonika auf dem Halfter über Jahrzehnte ein Markenzeichen war.

Und er stellt ihn auf eine Stufe mit dem „Vater der Countrymusik“, Jimmie Rodgers: „Jeder Song hat eine typische Mundharmonika-Passage; das ist sein Markenzeichen, genau wie das Yodeling bei Jimmie Rodgers. Eigentlich ist es genau dasselbe. Little Walter, so großartig er war, wäre auf einer Jimmy Reed-Platte fehl am Platz gewesen, genauso wie Jimi Hendrix.“

Beobachter der gesellschaftlichen Spaltung

Pete Seeger, Copyright: Wikimedia Commons

Wenn er in seinem Essay über Pete Seegers „Waist Deep In The Big Muddy“ über die heutigen Medien spricht, dann beschreibt er die Zustände ziemlich treffend. Er fühlt sich im Riff in die Situation des Songs ein, als ein unverantwortlicher Offizier seine Soldaten in Todesgefahr bringt und diesem ihm wie die Lemminge folgen. Im Essay stellt der große Kritiker des Protestsongs, der zugleich auch dessen größter Wortschmied ist, dann fest, warum Protestsongs in den 1960er Jahren tatsächlich eine Wirkung entfalten konnten:

„Wir hatten alle ein gemeinsames kulturelles Grundvokabular. Menschen, die die Beatles in einer Abendsendung sehen wollten, mussten sich auch Flamenco-Tänzer, Komiker in weiten Hosen, Bauchredner und vielleicht sogar eine Szene aus Shakespeare anschauen. Heute ist das Medium so vielschichtig, man muss sich nur eine Sache herauspicken und kann sich ihr ganz ausschließlich auf einem spezialisierten Stream widmen.“

Heute aber gibt es Spartenkanäle für jegliche Interessen und keiner mehr kann oder mag mehr über seinen Tellerrand blicken. „Es gibt 24 Stunden am Stück Blues, Surf Music, linkes Gejammer, rechte Hetze, jede nur vorstellbare Glaubensrichtung.“ Genauso sind die Zustände, die mit zu einer gesellschaftlichen Polarisierung, Spaltung und letztendlich zum Auseinanderbrechen der Gesellschaft führen.

Die Essays zeigen, dieser Mann hat sehr wohl verstanden, dass Songs immer etwas mit künstlerischer Eingebung, aber auch mit gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen zu tun haben. Er analysiert dabei aber nicht knochentrocken, sondern assoziativ, exemplarisch, alltagskulturell.

Darüber hinaus ist auch dieses Buch farbenblind. Ganz selbstverständlich weist er allen ethnischen Gruppen ihren Anteil an der Entwicklung der amerikanischen Populärmusik zu: Den Schwarzen und den Weißen, den Italienern und den Juden.

Auch ein Buch über Dylan selbst

Wenn Dylan seinen ehemaligen Mentor Pete Seeger, der so verzweifelt über Dylan Hinwendung zum Rock war, mit einem Essay ehrt und darin auch ganz klar von der politischen Ächtung Seegers bei weit in die 1960er Jahre schreibt und dessen Song „Deep Muddy“ eine echte Wirkung zugesteht, dann arbeitet er sich auch an seiner alten Rolle als Protestsänger und seinen Streit mit Seeger ab. Wenn er bei Jimmie Reed über dessen Mundharmonikahalter dann auch, weil er selber damit Weltruhm erlangte.

Dylans Philosophie des modernen Songs ist natürlich kein philosophisches oder lexikalisches Werk. Es ist eine subjektive Auswahl von Songs, die Dylan wichtig sind. Aber wir er sie darstellt – mit klarem Blick, mal nüchtern, mal verspielt, aber immer wortgewandt und der guten Pointe zugetan, wird dieses Buch zu einer Liebeserklärung an den Song und seine Songwriter. Also zu der künstlerischen Welt, in der Dylan zu Hause ist, und die er selbst revolutioniert hat. Daher muss er auch keinen eigenen Song behandeln. Denn er ist mit jedem dieser Songs ohnehin verwoben. Genauso wie jeder neue Song, der eine Haltung, ein Anliegen und ein wirkliches Gefühl hat, sich bewusst oder unbewusst an ihm ausrichtet.

Bob Dylans Gesamtwerk ist nicht mehr und nicht weniger als eine weitere große „Anthology of American Folk Music“. Und dieses Buch ist ein wichtiges, wunderbares Nachschlagewerk darin, das zu den Wurzeln dieses Songwriters führt.

Bob Dylan, Die Philosophie des modernen Songs, C.H. Beck, 352 Seiten, 35 Euro.

Talk und Musik rund um Dylans neues Buch am 18. November in Darmstadt

Mit einer Veranstaltung in Darmstadt, in der Bessunger Knabenschule, geht am 18. November die Reihe „Thomas Waldherr präsentiert Americana“ mit Talk und Musik dem neuen Dylan-Buch auf den Grund. Mit dabei sind Buchübersetzerin Conny Lösch, der Dylan-Experte Heinrich Detering sowie Dan Dietrich, Martin Grieben und Four Chords & The Truth.

Mehr Infos uns Tickets gibt es hier: https://www.knabenschule.de/?id=1171

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