Er malt sein Meisterwerk

Von Shadow Kingdom zur Rough And Rowdy Ways World Tour 2021-24: Innerhalb weniger Monate zeigt der 80-jährige Musik-Großmeister zwei ganz unterschiedliche Gesichter und schafft auf seinen Konzerten weiter große Kunst

Official Announcement, Copyright: http://www.bobdylan.com

Manchmal braucht es seine Zeit. Da ist man mit so vielen wichtigen Dingen im Alltag beschäftigt, da ist man nicht in der Lage, sich wirklich in Ruhe und ausführlich anderen wichtigen Dingen zu widmen. Mit Bob Dylans Herbsttour ging es mir so. Ich vernahm die Kunde, hörte in die Musik rein und war einfach erfreut, dass er wieder auf Konzertreise ging. Zu einer systematischen Beschäftigung aber kam ich erst jetzt, in den ruhigen Tagen zwischen den Jahren.

Aber kaum hörte ich wieder seine aktuelle Musik, las und hörte Konzerteindrücke und Musik der Auftritte in Milwaukee, Bloomington, Chicago, New York und Washington, da waren das alte Gefühl und vor allem die Einsicht wieder da: Er ist und bleibt für immer der bedeutendste Musiker in meinem Leben. Die Auseinandersetzung mit ihm als Person der Zeitgeschichte und mit seinem künstlerischen Werk ist unvermindert spannend und lohnend. Also hilft es nichts. Ich muss mich mit seinen aktuellen öffentlich konzertanten Leistungen auseinandersetzen und darüber schreiben.

Shadow Kingdom

Das Konzertevent kam für mich 2021 ungefähr genauso überraschend wie 2020 „Murder Most Foul“. Wer hatte damit gerechnet, dass Bob Dylan, während die meisten anderen schon wieder von Stream-Konzerten Abstand genommen hatten, nun plötzlich ein Online-Konzert ankündigte? Und streng genommen tat er es ja auch nicht. Denn das, was wir im Juli dieses Jahres sehen konnten, war die Mischung aus einem überlangen Video und einem kurzen Konzertfilm. Zu den typisch dylanesken Versatzstücken dieses durch und durch Sehens- und hörenswerten Werks – Schatten, Masken, Juke Joint, Zeitlosigkeit, Vielfältigkeit – habe ich in zeitlicher Nähe zur Ausstrahlung schon einiges bemerkt:
https://cowboyband.blog/2021/07/20/wo-viel-rauch-ist-ist-auch-viel-schatten/

Dann machten irgendwann im Spätsommer Gerüchte die Runde, Dylan würde zur Herbsttour aufbrechen. Es ploppten Termine auf, die wieder verschwanden, und just als die meisten die Hoffnung begraben hatten, war sie plötzlich da: Die Herbsttour. 21 Termine in knapp vier Wochen an 17 Orten. An Dylans langjährigen ausschweifenden Tour-Eskapaden gemessen ist das kurz und kompakt, für einen 80-jährigen jedoch absolut stark.

Rough And Rowdy Ways World Tour 2021-24

Und auch wenn ich bei keinem Konzert persönlich anwesend war. Was ich gelesen und vor allem gehört habe, reicht, um mir nach gut 45 Jahren eigener Bob-Geschichte, eine Meinung zu dieser „Rough And Rowdy Ways World-Tour“ zu bilden. Also dann!

Ich kann es mir nicht verkneifen, es zu fragen: Wird Dylan altersmilde? Selten war er so gesprächig wie heute. Stellt alle Musiker vor, reagiert schlagfertig auf Zuschauer und hat für jeden Konzertort ein Sprüchlein und nette Worte parat. Noch dazu ist die Bühne hell erleuchtet – sogar vom Boden aus – und damit  bieten die Konzerte visuell durchaus ein Kontrastprogramm zu Shadow Kingdom. Wird Dylan jetzt zum lieben Onkel Bob, zum verbindlichen Entertainer? Keine Sorge, die Performance, die Musik und die Texte sprechen immer noch eine andere Sprache.

„Rough And Rowdy Ways“ ist ein Album zu dem Dylan so sehr steht wie er schon lange nicht mehr zu einem Album gestanden hat. Wahrscheinlich so sehr wie seit der kontroversen Gospel-Phase nicht mehr. Also zelebriert er dieses Album mit acht Songs davon, dazu ein paar ältere Juwelen wie „Every Grain Of Sand“ oder „When I Paint My Masterpiece“, ein Sinatrastück. Es fehlen aber genau die, worauf er immer noch oftmals reduziert wird: die Protestsongs.

Bilanzierende Selbstverständigung und idealtypisches Amerika

Stattdessen webt Dylan seit Anfang dieses Jahrtausends stetig am Patchwork-Quilt des idealtypischen Amerikas. Und wenn es bei „Rough And Rowdy Ways“ auch um vielerorts um Alterseinsichten, Selbstbesinnung und sein Verhältnis zu Gott geht, so ist auch diese Dimension voll da. Sei es mit „Key West“ als Sehnsuchtsort der amerikanischen Freiheit und Toleranz oder mit „Goodbye Jimmy Reed“ als Song, der amerikanische Themen wie Religion, Rassismus und populäre Musik verhandelt. An letzterem hat er auch mit der Song- und Künstlerauswahl seines „Theme Time Radio Hour“-Nachklapps zum Thema „Whiskey“ angeknüpft. Der überwiegende Anteil afroamerikanischer Künstler war sein Kommentar zum Rassismus in den USA und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nach der Ermordung George Floyds im Frühjahr 2020 in Minneapolis.

Bob Dylan live on stage 2021, Copyright: Wikimedia Commons

Beide Songs sind ebenso im Live-Programm wie „False Prophet“, sein „It Ain’t Me Babe“ des neuen Jahrtausends, oder „My Own Version Of You“, dessen absurd überspitzte Darstellung von Marx und Freud ja nur eine ironische sein kann, weiß Dylan doch genau, warum gerade die Mächtigen vor den Einsichten der beiden jüdischen Intellektuellen schon immer so vehement warnen.

Songs wie „I Contain Multidudes“ und „Mother Of Muses“ von RARW haben aber das Terrain vorgegeben, das Dylan nun auch in seinen Konzerten beackert: Selbstverständigungen, Erklärungen, Bilanzen. Was man im Spätherbst seiner Karriere wohl eben so macht. Aber natürlich macht das keiner so gut wie Dylan.

Textrevisionen

Martin Schäfer hat in seinem lesenswerten Aufsatz für „Key West“ im Frühling diesen Jahres auf die Textrevisionen Dylans sowohl auf www.bobdylan.com als auch in den letzten Buchausgaben dessen „Lyrics“ hingewiesen: https://keywestmagazin.com/2021/05/13/dylaneske-poetologie/ .

Auf der Bühne ist Dylan stets frei mit seinen Texten umgegangen, hielt sich aber im Großen und Ganzen an die Vorgaben. In jüngster Zeit hat er jedoch ziemliche Textrevisionen unternommen. So bei „To Be Alone With You“ oder auch „When I Pain’t My Masterpiece“. Und „Gotta Serve Somebody“ hat außer den ersten beiden Zeilen einen gänzlich neuen Text bekommen. Hier hat wiederum Laura Tenschert in ihrem spannenden Konzertbericht vom Dezemberkonzert in Washington auf ihrem Podcast „Definitely Dylan“ herausgearbeitet, dass die dichotomische Message bei GSS sich nicht geändert hat – „Entweder bist Du auf der Seite des Guten oder des Bösen“ – während „To Be Alone With You“ von einem lieblichen Liebessong zu einem düsteren (Alb-)Traum geworden ist und sich in eine Reihe, so Tenschert mit „Early Roman Kings“ und „My Own Version Of You“ einfügt. Wobei ich hier den Vergleich mit „Soon After Midnight“ noch passender finden würde, dessen Zeilen wirklich die „dünne Linie zwischen Liebessong und Mörderballade“ (Tenschert) beschreiten.

Oberthema: „Rough And Rowdy“

Dylan ist also keineswegs der harmlose joviale Unterhalter, wie die Äußerlichkeiten der Herbstkonzerte suggerieren. Nein, Dylan verfolgt auch hier ein klares künstlerisches Konzept. Seine „Rough And Rody Ways Tour“ versammelt eine ganze Menge „Rough And Rowdy Way-Songs“. Vielschichtige düstere Balladen wie „Black Rider“, My Own Version Of You“ oder „False Prophet“. Dazu kommen jüngere Songs, die schon zu diesem Label passen wie „Early Roman Kings“ oder eben den textlich völlig veränderten Song „To Be Alone With You“.

Selbst „When I Paint My Masterpiece“ – es gehört schon immer zu seinen „Selbstverständigungs-Songs – ist verändert. Jetzt lässt er kein Mädchen aus Griechenland mehr bei sich sein – nein er kehrt der Welt den Rücken, wenn er sein Meisterwerk malt. Und er muss vorher gründlich seine Kleider waschen und alles Fett abkratzen. Sprich: sich völlig von der Welt lösen. Dylan ist mit 80 Jahren entschiedener denn je.

Denn mit 80 Jahren bekennt er sich nochmal neu zu seinem Selbstverständnis als Künstlerpersönlichkeit: „I Contain Multitudes“, „False Prophet“, „Mother Of Muses“. Und zu seinem idealtypischen Amerika: „Key West“, „Goodbye Jimmie Reed“. Und zu seinem Glauben: „I’ve Made Up My Mind To Give Myself To You“, Gotta Serve Somebody“, Every Grain Of Sand“.

Die Setlist als Summe der künstlerischen Einsichten und Bekenntnisse

Dylan zeigt uns als Summe seiner Karriere keine Setlist der größten Charterfolge, sondern eine Setlist, die seine künstlerischen und möglicherweise auch ein paar menschliche Einsichten sowie seine grundlegenden Bekenntnisse wiederspiegelt. Das kann nur Bob Dylan. Denn welcher Künstler außer Dylan würde es sich wagen, keinen einzigen seiner großen Hits zu spielen. Stattdessen nimmt er uns mit auf die Reise in sein künstlerisches „Hier und Jetzt“. Nicht der Entertainer als „Hit-Jukebox“, sondern der unvermindert kreative wie künstlerisch-potente Song-Bildhauer und Textmaler tritt da auf die Bühne nimmt uns jeden Abend mit in seine Werkstatt.

Im Spätherbst seiner Karriere ist Dylan mehr denn je ein Gesamtkunstwerk und seine eigene Erfindung. Ob der Maler, der Schöpfer von kunstvollen Gartentoren, der Whiskey Blendmaster Supervisor, der Radiomacher, der Songpoet und Live-Performer- alles nur verschiedene Aggregatzustände eines Elements: des großen Jahrhundertkünstlers Bob Dylan und seiner unstillbaren Kreativität, die fast nicht zu stoppen ist – „Sometimes I feel like my cup is running over“ (Masterpiece 2019/2021).

Musikjournalist, Blogger, Konzert-Kurator: Thomas Waldherr. Copyright: Cowboy Band Blog

All dies bekommt noch einmal eine besondere Qualität dadurch, dass Dylan mit 80 Jahren weitaus besser singt als mit 50. Und dass er sein Können als Arrangeur und Veränderer seiner Songs mittlerweile so perfektioniert hat, dass jeder neue Tourabschnitt große musikalische Überraschungen bietet. Und die Konzerte heute unterhaltsamer denn je sind.

Es ist daher nur zu hoffen, dass es die pandemische Entwicklung im Jahr 2022 ermöglicht, dass dieser Bob Dylan, dieser immer wieder aufs Neue großartige Künstler, weiter auf Tour geht. Wenn nicht, wäre das ein großer Verlust. Wir hoffen unvermindert das Beste!

Guten Rutsch und auf Wiederlesen in 2022!

In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern meines Blogs einen guten Rutsch ins neue Jahr. Auch wenn die pandemische und die politische Weltlage nicht unbedingt ein tolles und friedliches neues Jahr versprechen: Die Hoffnung bleibt!

Für das Interesse an diesem Blog bedanke ich mich sehr. Auch 2022 werde ich weiter an dieser Stelle meine Gedanken rund um Bob Dylan und Americana veröffentlichen. Es bleibt spannend!

Herzliche Grüße
Thomas Waldherr

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