Zartbittere Sehnsuchtslieder aus dem Great American Songbook

Bob-Dylan-Shadows-In-The-Night-2015-Back-Cover-98013Bob Dylan singt auf „Shadows In The Night“ in schleppenden Molltönen über Liebe, Verlangen, Verlust und Einsamkeit

Nein, Bob Dylan hat keinen der zehn Songs seines neuen Albums „Shadows In The Night“ geschrieben. Ja, alle diese Songs hat Frank Sinatra gesungen, einen davon sogar geschrieben. Und doch: Nein, es ist kein „Dylan goes Sinatra“-Album geworden. Bei aller Sympathie für „Ol‘ Blue Eyes“: Ein Sinatra-Cover-Album war nie sein Plan.

Was aber sollen wir nun mit diesen 35 Minuten langsamer, auf das Wesentliche reduzierter, fast schleppender Musik anfangen? Einer Sammlung von Werken, die zwar zum Kanon, aber nicht zur Hitliste des Great American Songbook gehören. Einfach als Nostalgie-Stück eines alternden Barden abtun? Das wäre zu kurz gesprungen.

Dylan lässt uns also keine Wahl. Wir müssen in die Lieder gehen. Beziehungsweise eine Ebene drüber schon mal auf die Songtitel schauen: „I’m A Fool To Want You“ – Verlangen. „The Night We Call It A Day“ – Verliebtheit. „Stay With Me“ – Verlustängste. „Why Try To cHange Me Now“ – Beziehungsprobleme. „Full Moon And Empty Arms“ – Verlust. „Where Are You?“ – Sehnsucht. „What’ll I Do“ – Ratlosigkeit und Trauer. „That Lucky Old Sun“ – Hoffen. Jedes Lied steht für bestimmte Phasen und Befindlichkeiten. Jetzt sollte der erste Groschen gefallen sein.

Dylan erzählt uns bereits mit seinen Songtiteln eine Geschichte. Wie in seinen letzten Konzerten, bei denen er Abend für Abend die gleichen Lieder in der gleichen Reihenfolge singt. Weil er diese Lieder singen will, und sie nur in dieser Reihenfolge für ihn derzeit einen Sinn ergeben. Vom programmatischen „Things Have Changed“ über „She Belongs To Me“, dem Rückgriff auf die eigene Jugend, bis hin zu dem furiosen, bitteren Abgesang auf die Hoffnung auf ein erfülltes Leben, „Long And Wasted Years“.

Die Songtitel von „Shadows In The Night“ erzählen nicht anderes als die klassische unglückliche Liebesgeschichte. So wie die Songs allesamt immer melancholisch, fragend, sehnsüchtig, oftmals traurig sind. So seltsam hingehaucht und flüchtig wirken sie. Kaum zu greifen, so wie die Beziehungen zwischen den Menschen von denen sie handeln. Wenn ein Song aus Dylans eigenem Songkatalog hier am besten dazu passt, dann ist das „Simple Twist Of Fate“. Diese alte Geschichte von flüchtiger Liebe, die zu lebenslanger Sehnsucht wird. Doch damals war Dylan im besten Alter. Nun, bald 74-jährig, schwingt die Dimension des Alterns, der drohende Verlust der Vitalität bei den Songs mit. Daher sind die Songs auch alle so reduziert. Bis auf den Kern reduziert sind sie. Bis auf die Melodie und den Gesang, der nur vom aller notwendigsten Instrumentenarsenal begleitet wird.

Und doch ist bei allem Schmerz, der den Songs und dem Album inne ist- und den Dylan mit seiner besten Gesangsleistung der letzten 25 Jahre so verführerisch und zärtlich auskostet – diese Platte keinesfalls etwas für morbide Novemberabende. Nein, denn es gibt – und dann wäre Dylan nicht Dylan, ein Lichtstreifen am Horizont. „That Lucky Old Sun“ ist denn auch der versöhnliche Abschluss dieses Albums für blaue Stunden. Es gibt Hoffnung, solange die alte Sonne noch am Himmel steht. Und genau deswegen ereignen sich ja diese Liebesgeschichten immer wieder. Der Mensch lebt sein Leben einfach weiter, auch wenn es mitunter schmerzt, es geht einfach nicht anders. Und so steht Dylan auch immer weiter auf der Bühne, schmerzen auch Rücken oder Seele.

Dylan eignet sich mit diesem Album auf unnachahmliche Weise diese Songs an. Er singt sie nicht einfach nach. Er überführt sie in seine Welt. Er gräbt sie aus, wie er in einem Interview erzählt hat. Er erweckt sie zum Leben, macht aus ihnen Dylan-Songs, indem er sie auswählt und ihre Reihenfolge auf dem Album komponiert – deswegen muss man dieses Album auch ganz bewusst immer wieder von Anfang bis Ende hören – und sie mittels seiner Arrangements und seines Gesangs und seinen Phrasierungen in neue gedankliche Richtungen und neue – Dylan’sche – Sinngehalte lockt.

Bob Dylan ist ein großer Singer-Songwriter. Aber Bob Dylan ist auch ein großer Interpret. Und „Shadows In The Night“ ist in dieser Beziehung sein Meisterwerk.

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