J. Paul Hendersons „Letzter Bus nach Coffeeville“ zeichnet auch Amerikas Geschichte des 20. Jahrhunderts nach
Immer mal wieder bespreche ich in meinem Blog Bücher, die für mich echtes „Americana“ sind. Schon vor geraumer Zeit – weit vor dem Trump-Desaster – habe ich hierbei darauf hingewiesen, dass mir die Autoren, die in kritischer Sympathie und echter Empathie für die Menschen aus dem Heartland über deren Leben und Probleme schreiben, mir näher sind, als die liberal-elitäre Nabelschau der Großschriftsteller von den Küstenstreifen.
Während meines Urlaubs waren es die Bücher von zwei Schriftstellern, die sich mit dem besagten „inneren Amerika“ beschäftigen, die mich gefesselt haben. Zum einen die Hackberry Holland-Saga des hier bereits ausführlich erwähnten James Lee Burke, zum anderen „Letzter Bus nach Coffeville“.
Letzteres war so ein typischer „kurz vor dem Urlaub-Kauf“. In der Bahnhofsbuchhandlung gesehen, und als wohl recht unterhaltsam eingestuft, entpuppte es sich am Ende als riesengroße positive Überraschung. Denn beim Modethema „Demenz“ kann man sich natürlich auch ganz dem Generationenthema hingeben, kann sich ganz auf ein belletristisches, humorvolles Gegenstück zur überbordenden Ratgeberliteratur beschränken. Doch genau das wollte Henderson nicht.
Zwar war der Antrieb für diesen Roman die Alzheimererkrankung der Mutter des Autoren, doch mit der in der Luft liegenden Mutter-Sohn-Geschichte beschäftigt sich Henderson überhaupt nicht. Was er stattdessen schafft, ist ein zutiefst menschliches Panorama der amerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts von einem eindeutig fortschrittlichen Standpunkt aus. Die individuelle Demenz einer der Hauptpersonen des Romans ist nur der Anlass, die Geschichten der Protagonisten so zu erzählen, dass das Buch zum Mittel gegen die historische Demenz Amerikas, gegen das Vergessen der Geschichte des fortschrittlichen Amerikas wird.
Mittels einer linearen Geschichte, sowie durch Rückblenden, um die Geschichte der zueinanderfindenden Charaktere zu erzählen, erzählt Henderson vom ungewöhnlichen Personal eines aberwitzigen Road-Trips, der dazu dient, um den letzten Wunsch der an Alzheimer erkrankten Nancy zu erfüllen. Auf beiden Erzählebenen erfahren wir nicht mehr und nicht weniger als wichtige Geschichten und Zusammenhänge aus der Historie des anderen Amerika. Von den Streikbewegungen der Bergarbeiter in Kentucky und der schwarzen Bürgerrechtsbewegung über die Anti-Vietnam-Kriegsbewegung bis hin zu subkulturellen Entwicklungen der 1970er Jahre.
Auf beste amerikanische, nämlich unterhaltsame Art, übt Henderson immer wieder Kritik an den Mächtigen und deren Organisationen und beschreibt den lebenslangen Kampf des Individuums, um unter den herrschenden Verhältnissen einigermaßen den Kopf über Wasser halten zu können.
Dabei zeichnet er natürlich auch ein Panorama der amerikanischen Populärkultur und ihrer Chiffren und Mythen, die hier u.a. Hersheys Schokolade, Waltons Mountain, Nashville oder Memphis heißen. Nebenbei spielt der typisch amerikanische religiöse Fundamentalismus genauso eine Rolle wie der US-Militarismus oder das modische esoterische New Age-Hipstertum des neuen Bürgertums.
Und so entsteht aus all diesen Ingredienzen ein außerordentlich intelligentes, anrührendes Buch, das allem Unbill zum Trotz, den Leser mit Hoffnung erfüllt. Individuelle und gesellschaftliche.
J. Paul Henderson, Letzter Bus nach Coffeeville, Diogenes-Verlag, 13 Euro.