Archive for the ‘Folk-Rock’ Category

„The Man in Me“ und „The Big Lebowski“

7. August 2020

Notizen zu Song und Film

Gestern Abend bin ich mal wieder beim Zappen reingerutscht. „The Big Lebowski“. Der geniale Film der Coen-Brüder. Diese einzigartige, funkensprühende Mischung aus Buddy-Kino, Schwarzer Reihe und absurdem Trash-Movie ist Outstanding. Und dabei gefallen mir die Filme der Coen-Brüder gar nicht immer. Mir gefallen „O Brother Where Art Thou“, „Fargo“, „True Grit“ und „Inside Llewyn Davis“. Sehr oft fehlt diesen postmodernen Filmemachern aber die wirkliche Empathie für die Figuren. Sie verraten und verkaufen sie. So wie bei „Burn After Reading“ oder „No Country For Old Men“. Dann wird mitunter ein Wettrennen in skurriler Brutalität entfacht und die Firme werden zum „posen“ missbraucht. Schicksal der Figuren, Sinnhaftigkeit der Handlung? „Nö, interessiert uns nicht, wir machen lieber knall, bumm, beng!Und warum? Weil wir es können!“

„The Big Lebowski“ ist aber von Anfang an ein empathischer Film. Der „Dude“ ist ein sympathisch-harmloser Looser, genial von Jeff Bridges gespielt. Er hält sich über Wasser und ihn und seine Freunde meint man wirklich zu kennen. Die Leute, die versuchen noch den letzten Zipfel des amerikanischen Traums zu erwischen. Kohle machen, auch wenn man nicht so schlau ist und Skrupel unterdrückt. Dass sie es letztendlich doch nicht schaffen und zu Flipperkugeln zwischen verschiedenen kriminellen Gruppen werden, macht sie um so sympathischer.

Und die Coens schaffen das, indem sie aus vertrauten Versatzstücken amerikanischer Populärkultur etwas ganz neues schaffen. Bowlingbahn und Porno-Business, Los Angeles und Cowboy-Kultur sowie die multi-ethnische Zusammensetzung der amerikanischen Gesellschaft rollen den Teppich ausm auf dem die Handlung ihren Lauf nehmen kann.

Ein 50 Jahre alter programmatischer Song
Dass dann „The Man in Me“, dieses nun 50 Jahre alte Stück von Bob Dylans Album „New Morning“ der quasi-Titeltrack des Films ist, ist ebenso passend wie große Ironie. Denn wie singt Bobby so schön: „The man in me will do nearly any task/ And as for compensation, there’s little he would ask/ Take a woman like you/ To get through to the man in me.“

Und genau so einer ist der „Dude“ eigentlich nicht. Vielleicht war er es mal. Aber jetzt will er keine Verantwortung mehr übernehmen und keine Arbeiten erledigen. Er ist so desillusioniert, nur das „Bowlen“ gibt ihm einen Halt. Eine ruhige Kugel schieben, seine Freunde treffen und einen „White Russian“ trinken – das strukturiert ihm den Tag. Man könnte darüber lamentieren, man könnte zornig die Ungerechtigkeit anprangern – aber ganz postmodern enthalten sich die Coen-Brüder der Bewertung und zeigen stattdessen, das was ist. Die von mir aufgeführten schlechten Filmbeispiele aber zeigen, was aus postmodernem „Anything Goes“, das ja auch das kulturelle Gegenstück zur neoliberalen Politik- und Wirtschaftssphäre ist, werden kann.

Wärme und Menschlichkeit als universelle Werte
Hier aber liegt der Fall anders. Denn der „Dude“ zeigt in dieser aufregenden Episode seines ansonsten doch ziemlich ereignisarmen Lebens, dass er doch noch so einige menschlich Reflexe beherrscht. Verpeilt, aber letztendlich dann doch empathisch und auf seine Art verantwortungsvoll.

Wie singt doch Bobby: „The man in me will hide sometimes to keep from bein’ seen/ But that’s just because he doesn’t want to turn into some machine/ Took a woman like you/ To get through to the man in me.“ Ja, auch der Dude möchte nicht auffallen, kein großes Aufheben machen, gar nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen. John Waynes konservativ-knorriges „Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss“ werden hier von Dylan und dem Dude zweifach gebrochen, um viel selbstverständlicher, gleichberechtigter und wärmer neu zusammengesetzt zu werden.

Für Bob Dylan war es 1970 in der Hochphase seines Rückzugs ins Familienleben ein programmatisches Lied. Er will keine Maschine werden, der auf Knopfdruck seriell funktioniert. Der Lieder am Fließband schreibt, Konzerte gibt und auf Künstlerparties abhängt. Er will nur sein Leben führen, ohne allzu große Aufregung und Öffentlichkeit. Das will der „Dude“ auch.
Die verschränkte Ironie des Gebrauchs dieses Bob Dylan-Songs für diesen Film ist aber nun die: Für Dylan war die Ruhe in familiärem Rückzug nur eine kleine Insel in einem Meer von „stardom“. Für den „Dude“ war die aufregende Kriminalgeschichte nur eine Insel in einem Meer von Langeweile und Bedeutungslosigkeit.

Dass der Song aber so wunderbar funktioniert zeigt wieder einmal mehr die Qualität von Dylans zeitlosem Songwriting. „The Man In Me“ – ein Klassiker voller Wärme und Menschlichkeit. Und auch wenn es nicht typisch für die Coen Brüder sein mag: Auch beim „Dude“ sind – aller Antriebslosigkeit, Verpeiltheit und Erfolglosigkeit zum Trotz – diese positiven universellen Werte zu spüren.

Drei Versionen von „The Man In Me“

Bob and Bruce (eh…the other one!)

17. Juli 2020

Nein, hier geht es nicht um die erneute Untersuchung des Verhältnisses von Dylan zu Springsteen. Bruce Hornsby ist der Bruce, um den es heute hier gehen soll. Er veröffentlicht am 14. August seine neuen Longplayer „Non-Secure Connection“, der zahlreiche Kollaborationen mit anderen Künstlern enthält, aber keine mit Dylan.

Gemeinsame Freunde: David Mansfield und „Grateful Dead“
Dabei gibt es doch einige Verknüpfungen und Gemeinsamkeiten der beiden. Doch beginnen wir vorne. Hornsby gründet 1986 seine Band „Bruce Hornsby and The Range“. Und wer ist mit dabei? David Mansfield! Der Geiger und Komponist spielte sowohl mit Bob Dylan auf der Rolling Thunder Tour 1975/76 als auch auf der Welttournee 1978. Später spielte er Steven Soles und T Bone Burnett in der „Alpha Band“ und komponierte Filmmusik und schauspielerte für den Western Heaven’s Gate (Die berühmte Rollschuhszene!). Um sich dann eben sich mit Hornsby zusammenzutun. Allerdings verließ er die Gruppe bereits vor ihrer ersten Tour wieder.

Der größte Hit Hornsbys und heute noch gerne gespielt im Radio ist „The Way It Is“. Hinter der butterweichen, gefälligen Pop-Produktion, die von Hornsbys Klavierspiel geprägt ist, entpuppt sich der Song als ein kritischer Blick auf Armut und Rassismus als Kontinuitäten der amerikanischen Gesellschaft. Auch für andere schreibt er Hits, beispielsweise für Huey Lewis & The News („Jacob’s Ladder“) und 1989 zusammen mit Don Henley (Ex-„Eagles“) „The End Of The Innocence“. Den spielen die beiden Künstlern fortan in ihren Konzerten.

Ab 1990 spielt er für einige Jahre dann auch bei Dylans Freunden von „The Grateful Dead“ mit. Und 1990 schließlich arbeitet er dann direkt mit Dylan zusammen. Da ist Hornsby einer der unzähligen Gastmusiker, die Produzent Don Was für „Under The Red Sky“ anschleppt.

Gastmusiker bei „Under The Red Sky“
In einem Artikel des britischen Musikmagazins „Uncut“ aus dem letzten Jahr beantwortete Hornsby die Leserfrage, wie es denn so war, mit Dylan zu arbeiten: „Bob kam ins Zimmer, er trug einen großen Hoodie mit einer Baseballkappe darunter. Er stellte sich uns vor, dann ging er zu einem Tisch und begann, alle seine Taschen zu leeren und all diese Servietten und Hotelpapiere herauszuholen, die mit Notizen gefüllt waren. Dann kam er zum Klavier und brachte mir dieses großartige Lied mit dem Titel „Born In Time“ bei. Das war ein surrealer Moment für mich, als ich mich daran erinnerte, wie wichtig seine Musik für mich als Kind war. Also haben wir das aufgenommen, dann haben wir eine kleine Pause gemacht und sind zurückgekommen und haben diesen kleinen Ein-Akkord-Jam gestartet. Plötzlich kommt Bob herein, geht zum Tisch, durchsucht die Servietten, nimmt eine und geht zum Mikrofon und beginnt zu singen. Und das wurde ein Song auf der Platte namens „TV Talkin ‚Song“. Sprechen wir über Spontanität!“

„The End Of The Innocence“
Ob die Begegnung oder die gemeinsamen Weggefährten Einfluss auf die Songauswahl von Dylan auf seiner Tour Herbsttour 2002 hatte, ist schwer zu sagen. Da sang er mehrmals „The End Of The Innocence“. Der Song, den Hornsby mit Henley schrieb ist wieder so ein gefälliges Pop-Rock-Stück mit engagiertem, kritischem Text, der allgemein als Aussage gegen Ronald Reagans Außen und Rüstungspolitik angesehen wird, aber natürlich auch als allgemeine Metapher gegen den Wahnsinn des Krieges gesehen werden muss. Und damit im Herbst 2002 erneut aktuell wurde, als George W. Bush den Krieg gegen den Irak vorbereitete.

Etwas weiteres Verbindendes beschreibt Tony Atwood auf der Website „Untold Dylan“ . Die beiden hätten bei die Empathie für die Nöte der kleinen Farmer gemein. Und Hornsby wiederum hat immer mal wieder Dylan-Titel im Gepäck. U.a. auch immer wieder „Girl From The North Country“. Der Song soll ihn der Legende nach beim Schreiben von „The Way It Is“ beeinflusst haben.

Auf jeden Fall ist Bruce Hornsby auch ein Künstler mit dessen Musik die Beschäftigung lohnt. Auch seine Viesleitigkeit ist faszinierend. Denn abseits von Pop und Rock hat er auch großes Faible füer Folk und Bluegrass. U.a. hat er mit der Bluegrass-Legende Ricky Skaggs eine Platte zusammen eingespielt.

Die Besprechung von Hornsbys neuem Album ist dann demnächst auf http://www.country.de zu lesen.

Bruce Hornsby: The Way It Is

Bob Dylan live: The End Of The Innocence“

Songs aus der Corona-Isolation

30. Mai 2020

J.S. Ondara überrascht mit neuem Album

Für den Blogger war das nach der Albumankündigung von Bob Dylan der überraschendste und größte musikalische Moment während der Corona-Krise: J.S.Ondara hat kurzerhand auf allen digitalen Plattformen gestern aus dem Nichts heraus ein neues Album veröffentlicht. Die physische Veröffentlichung folgt Ende August, aber der historische Moment ist jetzt. „Folk n’ Roll Vol. 1: Tales Of Isolation“ ist in nur drei Tagen nach wochenlanger Isolation und Nichtstun entstanden. Es musste jetzt raus.

Ondara knüpft in Echtzeit da an, wo der Vorgänger „Tales Of America“ aufhört. Er sieht dem auseinanderbrechenden Amerika während der Corona-Krise zu und erzählt in „Pulled Out Of The Market“ von arbeitslosen Restaurantbedienungen und gefeuerten Arbeitern. Er erzählt in „Isolation Depression Syndrome (IDS)“ von seinen Ängsten, von seiner Isolation und Depression und er singt in „Ballad Of Nana Doline“ über die typisch amerikanische Lebensgeschichte einer älteren Frau bis zu ihrem Tod durch Corona.

Ondara, hat sich ja seinen amerikanischen Bob Dylan-Traum erfüllen können und siedelte vor ein paar Jahren von Kenia über nach Minneapolis. Weil er da Verwandte hat und weil Bob Dylan aus Minnesota kommt. Die jetzigen Unruhen und die Ermordung George Floyds in seiner neuen Heimatstadt, konnten noch nicht in die neue Musik einfließen. Aber die Geschehnisse gegen die ja auch in Louisville, Denver, Dallas, Los Angeles, New York und Washington demonstriert wird, sind ja ohnehin ein trauriges Kontinuum für die afroamerikanische Community. Polizeigewalt ist für Afroamerikaner eine das ganze Leben durchziehende reale Bedrohung.

Ondara, für den ich mir sehr gewünscht habe, dass er sein starkes Debütalbum bestätigt, hat sein Soll mehr als erfüllt. Er ist der derzeit schärfste Beobachter des amerikanischen Alptraums und er tut dies in einer Bildsprache, die klar und kräftig ist, er tut dies in Songs, die spannende Geschichten erzählen, mit Gesang und Melodien, die absolut mitreißend sind. Und das alles macht er mit einer großen Empathie für die Menschen.

Eigentlich wollte er ein ganz anderes Album herausbringen, eines mit voller Band, aber jetzt er sich aus der Not heraus ganz alleine in große Höhen geschwungen. J.S. Ondara wird man wirklich fest im Auge behalten müssen. Er ist zu gut, um stehen zu bleiben. Ganz wie sein großes Vorbild.

The Bickenbach, Texas Home Office Diary (25)

17. April 2020

From Sand Rabbit Town into the whole wide world

Howdee Everyone,

today: Anne Frank meets Indiana Jones!

Dylans neuer Song ist ein Selbstporträt des Dichters als Summe vieler Stimmen und Persönlichkeiten – vielfältig und wiedersprüchlich.

Wow! Wieder fährt man morgens den Computer hoch, scannt mit einem Auge als erstes im Netz die Dylan-Seite expectingrain.com und was passiert? Schon wieder hat der alte Kerl über Nacht einen neuen Song veröffentlicht! „I Contain Multitudes“ heißt das neue Werk.

Das Ding ist mit diesmal knapp viereinhalb Minuten deutlich kürzer als „Murder Most Foul“, aber kein bisschen weniger textlich anspruchsvoll. Dylans Song ist eine Art Selbstporträt. Der Dichter als lebender Widerspruch. Das ist er ganz persönlich, aber auch als Projektionsfläche der Hoffnung mehr als einer US-Generation. Denn wie viele Stimmen, wie viele Persönlichkeiten, wie viele künstlerische Ansätze hat er verfolgt, nur um sie gleich wieder einzureißen und neue zu beginnen. Und das nicht nur nacheinander, sondern auch gleichzeitig.

Dabei hat sich Dylan des Titels diesmal beim großen amerikanischen Dichterfürsten Walt Whitman bedient. Bei dessen Poem „Songs of Myself, 51“:

Do I contradict myself?
Very well then I contradict myself,
(I am large, I contain multitudes.)

Vielfalt
Dieser Whitman empfand sich von sich, er bestünde aus vielen Teilen, er sei vielfältig. Und damit meinte Whitman auch wie später auch Woody Guthrie oder die Beatniks – die allesamt Dylan prägten – sagen, dass sein Amerika ein vielfältiges Amerika sei. This Land Is Your Land This Land Is My Land“, sang Woody. Vielfältig landschaftlich wie ethnisch, religiös wie politisch. Vielfältig, aber auch so widersprüchlich. Der Süden hat Sklaverei und Rassismus ebenso hervorgebracht wie Blues, Country und Jazz. Zu den USA gehören demokratischer Pluralismus und Gewaltenteilung ebenso wie menschenfeindlicher Radikal-Kapitalismus. Zusammenhalt in den Communities ebenso wie Einzelkämpfertum und Egoismus.

Gegensatzpaare
Nicht diese, aber andere Gegensatzpaare, spielen eine große Rolle in dem Song. Anne Frank und Indiana Jones in einen Vers zu bringen, ist genial. Im Netz suchen sie nach verbindendem zwischen den beiden. Aber ist denn der Gegensatz nicht der, der zählt? Dass man konträre Eigenschaften hat und trotzdem Teil eines Ganzen ist? Anne Frank, das jüdische Mädchen, das sich vor den Nazis in Amsterdam verstecken musste, und ihnen zum Opfer fiel und Indiana Jones, der Abenteurer, der sich immer wieder Kämpfe mit den Nazis lieferte, aber stets die Oberhand behielt. Dylan bietet uns noch weitere Gegensatzpaare an, nennt uns aber auch weitere Vorbilder, die quasi prägend sind: William Blake oder Edgar Allan Poe.

Kollektivwesen
In seiner Radio Show webte Dylan über mehrere Jahre an einem idealtypischen musikalischen Gewand für Amerika. Die USA sind so vielfältig, das Gewand konnte nur ein Patchwork-Quilt werden. Dylan greift hier bei „I Contain Multidudes“ das Motiv der vielen Persönlichkeiten, der vielen Stimme nochmals auf und reklamiert dieses Prinzip für seine Person. Er als amerikanischer Poet kann gar nicht anders als vielstimmig sein. Aus seinem Kopf, aus seinem Mund spricht quasi das amerikanische Kollektivwesen. Heinrich Detering hat einmal diesen Vergleich zu Goethe gezogen, der sein Werk als Werk eines Kollektivwesens verstand, das nur zufällig Goethe hieß.

Amerikanisches Gesamtkunstwerk
Bob Dylan ist längst ein amerikanisches idealtypisches Gesamtkunstwerk. Er vereinigt in sich Folk, Blues, Country, Gospel, Soul. Woody Guthrie und Sinatra. Johnny Cash und Sam Cooke.

Schlaumeier könnten jetzt sagen, das klingt jetzt aber doch ganz schön nach Finale und Vermächtnis. Der erste Song über das amerikanische Trauma im amerikanischen Jahrhundert, der zweite ein Selbstporträt orientiert an einem amerikanischen Dichterfürsten. Doch Dylan – der uns schon seit vielen Jahren auf der Bühne vorspielt, er sei ein alter gebrechlicher Mann und sich auch bewusst eine verbrauchte Stimme gab und der im Kurpark gut zu Fuß unterwegs war und heutzutage so gut singt, wie seit 35 Jahren nicht mehr und der mit dem Rücken zum Publikum mit der Band scherzt, aber den Zuschauern gegenüber keine Miene verzieht – der kann uns jetzt auch ganz einfach nochmal seine Stilmittel und sein Selbstverständnis erklären, um dann wieder ganz anders weiter zu machen.

Bob Dylan nutzt die Zeit, die durch Corona still steht, um unseren Blick auf Amerika – sein Amerika ist ein anderes, als das von Trump – und auf sich selbst zu schärfen. Was weiter passiert, hängt auch davon ab, wie es auf der Welt weitergeht.

The Bickenbach, Texas Home Office Diary (20)

12. April 2020

From Sand Rabbit Town into the whole wide world

Howdee Everyone,

heute geht es auf eine Zeitreise mit Bernies Autobahn Band!

Ich habe hier schon anderer Stelle davon erzählt, dass ich zur gleichen Zeit Mitte/Ende der 1970er als ich Bob Dylan für mich entdeckte, in der Darmstädter Fußgängerzone immer wieder mal Bernies Autobahn Band (BAB) spielen sah. Sie spielten schönen schmissigen Folkrock, der mich tatsächlich an die Desire erinnerte. Die beiden Songs, die von diesen Begegnungen mir im Ohr blieben, waren ihre Eigenkomposition „Uli mit seinem 40-Tonner“ und der Song „Is Anybody Going To San Antone“, den ich fälschlicherweise damals für einen Dylan-Titel hielt. Aber dass sie ihn spielten, hatte natürlich mit Dylan zu tun. Der hatte den Song nämlich wenige Jahre vorher mit Doug Sahm in Texas eingesungen.

Und Bernie und seine Freunde waren Dylan-affin und Bernie hat in seiner Karriere einige Dylan-Songs eingedeutscht. „Long Ago, Far Way“ heißt bei ihm „Weit weg, lange her“, „Just Like Tom Thumb’s Blues“ wurde zu „Wenn es Nacht wird in der Stadt“ und vor wenigen Jahren hat er nochmal „Simpel Twist Of Fate“ mit „Schicksal“ übersetzt. Er hat bahnbrechendes für Dylan auf Deutsch geleistet.

BAB wurde zu meiner Zeit als Jugendlicher und junger Erwachsener in den 1980er Jahren zu einer hessischen Kultband mit bundesweiter Ausstrahlung. Die Mitglieder lebten teilweise im Odenwald oder an der Bergstraße, hatten Bezug ins Rhein-Main-Gebiet, Bernie selbst lebt seit Mitte der 1980er in Franken. Ich sah sie nach ihrer Fußgängerzonen-Zeit u.a. noch beim Darmstädter Folkfest im Schlosshof und bei einem ihrer letzten Konzerte, einem Privatauftritt im Rahmen der Bundeskonferenz der SJD-Die Falken in Darmstadt.

Da es leider keine CDs mehr der Band auf dem Markt gibt, habe ich mir heute Nachmittag einfach alles angehört was es von ihnen und Bernie auf youtube gibt. Und es war großartig. Sicher, manches ist typisch Zeitgeist – gegen Atomkrieg und Atomwaffen, gegen die Umweltverschmutzung („Sind wir noch zu retten“). Und vieles kulturell auch vom damaligen typischen undogmatisch-linken Milieu geprägt. Aber vieles ist auch erschreckend aktuell angesichts globaler Krisen, Erderwärmung und Corona-Pandemie.

Aber das wichtigste ist die Menschlichkeit in der Stimme und in der Lyrik von Bernie Conrads. Da merkt man, der singt zutiefst menschlich und anhand von Alltagsbeobachtungen von den Möglichkeiten der Reichen und der Ohnmacht der kleinen Leute („Fabrikantenwalzer“, „Seit ich denken kann“, „Es ist schon wieder Montag“). Er ist voller Empathie. Und das gilt auch für die nachdenklichen Songs („HR3 wünscht Guten Morgen“) wie auch für die Liebeslieder („Die Art wie sie mich gängelt“).

Und auch wenn Bernie zwischenzeitlich für Maffay das Hitalbum „Maffay 96“ schrieb, so ist diese, seine eigene persönliche Note bei seinen Songs auch heute noch präsent. Sei es die Geschichte von der Verkäuferin an der Edeka-Wursttheke („Mauerblümchen“) oder eben seine Dylan-Adaption „Schicksal“. Es war ein ebenso wehmütiges wie freudiges Wiederhören.

Der große Radiomann Tom Schroeder hat Recht, wenn er sagt, „Bernie ist einer unserer Größten“. Am kommenden Samstag hätte Bernie mit seinem alten Bandmate Bernhard Schumacher zusammen beim Darmstädter Dylan-Tag 2020 auftreten sollen. Der ist nun aufs nächste Jahr verschoben. Spätestens dann freuen wir uns, dass sich der Kreis schließt und wir Bernie im Pädagogkeller hören können. Nur unweit von der Fußgängerzone gelegen, in der damals für mich alles anfing.

Bernie und Bernhard – wir warten und freuen uns auf Euch in 2021!

The Bickenbach, Texas Home Office Diary (14)

6. April 2020

Heute ist Hochzeitstag!

From Sand Rabbit Town into the whole wide world

Howdee Everyone,

heute ist Hochzeitstag!

Jedenfalls unserer. Ein guter Anlass, um sich hier mal mit Songs rund um Liebe, Heirat, Ehe und Partnerschaft zu beschäftigen. Natürlich mit Songs von unserem Bob.

Gerade mal zwei Jahre dauerte die Liaison von Bob mit Joan Baez, dann hatten sich die beiden auseinander entwickelt. Während Joan tagespolitisch aktiv blieb, hatte Dylan anderes vor. Seine Songs waren weniger politisch konkretes Programm als poetisch vorgetragene Klage gegen die verwaltete Welt in all ihrem Irrsinn. Und er lernte Sara Lowndes kennen, mit der er von 1965 bis 1977 verheiratet war. Für Sie hat er einige seiner schönsten Liebeslieder gesungen.

1. Love minus Zero/ No Limit
Der Song für die sich anbahnende Liebe. Dylan so lieb und zärtlich wie selten in dieser zornigen Zeit. „My Love she speaks like silence, without ideals of violence…my love she’s like some raven at my window with a broken wing.“
Um das lieb-zärtliche zu unterstreichen habe ich hier eine schöne Version vom Bangladesh Concert ausgewählt. Nur mit Gitarre und Mundharmonika…schmacht!

2. You Ain’t Goin Nowhere
Unser Hochzeitssong und das Zeugnis des Selbstverständnisses von Bob als Landlord und Familienvater: „Whoo-ee! Ride me high, tomorrow’s the day, my bride’s gonna come“. und erzählt ansonsten vom schönen Landleben. Hier in der Version von Shawn Colvin, Marx Chapin Carpenter und Rosanne Cash vom Bobfest 1992. Weil wir genau das bei unserer Hochzeit gespielt haben.

3. The Wedding Song
Ja, der Song ist schon speziell. Aufgenommen 1973 kurz vor der Comeback-Tour mit The Band und sicher war da schon zu spüren, dass die große Zeit dieser Liebe und Beziehung langsam vorüber war. So klingen seine starken Worte doch eher wie eine trotzige Beschwörung. Und im Unterbewusstsein ahnt man das Ende. „You gave me babies one, two, three, what is more, you saved my life, Eye for eye and tooth for tooth, your love cuts like a knife, My thoughts of you don’t ever rest, they’d kill me if I lie, I’d sacrifice the world for you and watch my senses die.“ Hier eine Version von eben dieser Comeback-Tour.

4. To Make Me Feel My Love
Ich gebe zu, dass für mich Anfangs der Song keine so große Offenbarung war. Hatte er hier sich nicht bei sich selbst bedient in Sachen Harmlosigkeit und trivialen Reimen? Hörte sich so bekannt an, so wie „I’ll Remember you“ von 1985, nun also „To Make Me Feel My Love“ 1997. Und dann sangen den Song auch noch wirklich alle. Billy Joel, Garth Brooks. Adele. Mannomann. Aber dann kamen die Konzerte von 2019 und ich wurde geläutert. Über die Version von Stuttgart schrieb ich damals:
„Sogar das ja eigentlich etwas zu routiniert runtergeschriebene „Make You Feel My Love“ wird durch seine konsequente und entschiedene Haltung – „glaub mir, ich lass‘ Dich wirklich meine Liebe spüren“- an diesem Abend zu einem wirklich großen Song. Denn so lautstark wie er das betont, schwingt stets auch scheinbar das Eingeständnis mit, so viele schon in seinem Leben enttäuscht zu haben. Das lässt einen nicht kalt.“

Soweit die ewige Liebeserklärung. Wir genießen jetzt den Abend.
Bis morgen!

Best
Thomas

The Bickenbach, Texas Home Office Diary (4)

27. März 2020

From Sand Rabbit Town into the whole wide world

Ich habe heute morgen meinen Computer hochgefahren und wie immer fiel einer der ersten Blicke auf expectingrain.com, die internationale Dylan-Fanseite. Und schon war dieser Tag ein anderer als gedacht: Denn heute Nacht hat Bob Dylan den ersten neuen Originalsong seit fast acht Jahren veröffentlicht.

„Murder Most Foul“ heißt das Stück, das mit fast 17-Minuten das in der Reihe der ohnehin vielen langen Dylan-Stücke nun auf die Pole-Position geschnellt. 17 Minuten lang erzählt Bob Dylan von Amerika. Ausgehend von der Ermordung von John F. Kennedy am 22. November in Dallas, Texas, entwirft die Songwriter-Legende nicht nur ein bild- und namensreiches Panorama der 1960er Jahre, sondern geht auch auf die durch die Ermordung Kennedys verlorenen Hoffnungen auf Veränderung ein.

„An dem Tag, als sie ihn töteten, sagte mir jemand, mein Sohn,
Das Zeitalter des Antichristen hat gerade erst begonnen.“

„Was ist die Wahrheit? Wo ist sie hin?
Frag Oswald und Ruby, sie sollten es wissen,
Halt den Mund, sagte die weise alte Eule,
Geschäft ist Geschäft, und es ist Mord wie er aufs Beste ist.“

„Was ist neu Pussycat, was habe ich gesagt?
Ich sagte, die Seele einer Nation sei weggerissen worden,
und sie beginnt langsam zu verfallen,
und dass es 36 Stunden nach dem Tag des Gerichts ist.“

Soweit wichtige Kernsätze des Liedes, das sich musikalisch zwischen den Sinatra-Songs und „Long And Wasted Years“ von „Tempest“ einreiht. Streicher- und Pianobegleitung und offener Sprechgesang, kein Refrain nur die hier und da die Zeile „Murder Most Foul“.

Das ist übrigens ein Hamletzitat. Erster Akt, 5. Szene. Der Geist spricht zu Hamlet:

„Ja, schnöder Mord, wie er aufs Beste ist,
Doch dieser unerhört und unnatürlich.“

Und wieder kann Dylan der Versuchung nicht widerstehen, Ereignisse unserer Zeitgeschichte in Shakespeare-Zitate zu kleiden. Und sein „Klagelied“ geht weit über das Amerika der 1960er hinaus. Im Subkontext ist natürlich die Rede vom heutigen Amerika. Mit der Ermordung Kennedys ist die Seele Amerikas weggerissen worden. Nun, zu Zeiten von Trump – „und Corona“ mag sich Dylan gedacht haben, als er dieses Werk nun veröffentlicht hat – ist endgültig der Verfall eingeleitet worden. Denn dieser Präsident weiß gar nicht was Amerika eigentlich ist. Für Dylan ist Amerika eine Idealvorstellung, die in der amerikanischen Musik zum Ausdruck kommt. In Blues, Country und Jazz. Musik, die für Dylan auf einer Stufe mit griechischer Mythologie oder Shakespeares Dramatik steht. Daher sein ausführliches Namedropping, seine Ausschüttung des Zitaten und Musiktitel-Füllhorns in diesem Song.

Dylan sagt uns: Über John F. Kennedy kann man noch Klagelieder singen. Die Spottlieder über Trump aber überlässt Dylan anderen. Die Nichterwähnung des orangefarbenen Horror-Clowns in Dylans Werk ist Strafe genug.

Ob der Song jetzt so etwas wie eine Ouvertüre zu einer neuen Albumveröffentlichung ist, steht bislang in den Sternen. Dabei wäre es genau das, was wir und was Amerika jetzt braucht: Eine integere amerikanische Seele, hinter der man sich versammeln kann, die Trost statt Hass spendet und die ein idealisiertes Amerika einem gespaltenen, erodierenden Amerika vorzieht.

Amerikas Überindividualismus und sein verquerer Freiheitsbegriff wird durch die Corona-Krise als unmenschlich und nutzlos entlarvt. Kein leistungsfähiges Gesundheitssystem für alle, kein Sozialsystem, keine Absicherung von Arbeitslosen. Das einzige was Amerika den Menschen zuhauf gibt sind Waffen. Es drohen in der Tat apokalyptische Zustände. Armut, Krankheit und Tod in einem Ausmaß, gegen die die Great Depression ein Kindergeburtstag war. Gewalttätige Riots wie man sie noch nie gesehen hat.

Dylan hat sein ganzes Leben – ohne sich politisch in eine Schublade zu begeben – für die Menschlichkeit und gegen diese Apokalypse angesungen. In seinem Spätwerk immer bitterer und böser. Nun muss er schon in vermeintlich bessere Jahre zurückblicken, wenn er in den Zeiten des galoppierenden Hasses gehört werden will. Ein Rückblick in eine Zeit, in der aber der Niedergang schon angelegt war. Indem die gesellschaftlichen Alternativen nicht nur mit John F. Kennedy, sondern auch mit Malcolm X, Bobby Kennedy und Martin Luther King ermordet wurden. Und die Machtverhältnisse verfestigt wurden.

Dylans „Murder Most Foul“ ist der Schwanengesang auf sein, auf unser Amerika.

The Bickenbach, Texas Home Office Diary (3)

26. März 2020

From Sand Rabbit Town into the whole wide world

Howdee Everone,
die Situation rund um Corona verleitet natürlich zu vielen mal mehr, mal weniger originellen Aktionen im Internet und in den sozialen Medien. Nein, ich werde hier keine Hitparade der Corona-Songs auflisten. Und auch nichts auf Corona umdichten. Daher gibt es auch hier kein „Corona, Corona“ als aktuelle Adaption eines alten Dylan-Klassikers.

Auch die mäßig lustigen Corona-Songs von ebenso selten lustigen Komikern sollen hier nicht Thema sein. Wie man stattdessen als Songwriter – oder hier besser Liedermacher – sich mit dem aktuellen Therma auf hohem Niveau beschäftigen kann, zeigt das Frankfurter Duo „Klein und Glücklich“. Deren Song „Shut Down“ könnt Ihr Euch unten anhören.

Nein, Bob Dylan ist keiner für einen Song für jede Lebenslage. Zumal es eine solche wie die jetzige in seinem und unserem Leben noch nicht gab. Bob Dylan ist dagegen einer für Songs, die sich um universelle menschliche Fragen drehen: Liebe, Tod, Sterblichkeit. Ungleichheit, Rassismus, Gerechtigkeit. Krieg, Frieden, Gewalt. Veränderung, Wandel, Kontinuitäten. Daher kann man nur nach einem Dylan-Song suchen, der Gefühle und Gedanken aufgreift, die ähnlicher Natur sind, wie wir sie jetzt haben.

Es verändert sich etwas. Es wird nicht einfach so weiter gehen können wie vorher. Auch wenn das so mancher gerne glauben möchte. Es wird anders sein als vorher. Das kann zum besseren sein: Solidarität statt Egoismus. Gemeininteresse statt Kapitalinteresse. Soziale Gerechtigkeit statt Ungleichheit. Toleranz statt Rassismus. Umweltbewusstsein statt Raubbau am Planeten und am Klima. Denn in der Krise zeigen sich jetzt die bösen Folgen von 40 Jahren Neoliberalismus und Egoismus. Wenn wir die richtigen Schlüsse ziehen, dann ist das neoliberale Zeitalter endgültig vorbei.

Es kann aber auch anders sein: Die in der Krise ausgesetzten Freiheiten werden nicht mehr zurückgegeben. Autoritäre Staatsstreiche ersetzen die Demokratie. Da müssen wir achtsam sein und dem beizeiten entgegentreten. Diese Gefahr scheint derzeit in Ungarn, Großbritannien oder den USA größer zu sein als hierzulande.

Nun, welche Songs haben diese großen gesellschaftlichen Umbrüche, Krisen oder Erschütterungen zum Inhalt? Und welche die großen Katastrophen? Wie im Brennglas schafft es Dylan immer wieder im großen Ganzen die Einzelteile zu sehen und dabei die Perspektive in seinen Songs immer wieder zu wechseln. Er sieht das große Ganze und das Schicksal des Einzelnen. Und letzteres ist ihm immer wichtig und opfert er nicht abstrakten Wahrheiten, Ideologien oder wohlfeilen politischen Strategien. Da ist er ganz autonomer und individualistischer Künstler. Und das ist auch gut so. Genauso wie es immer legitim ist, dass Kunst subversiv ist. Und sollte die Gesellschaft noch so fortschrittlich und gerecht sein – der Künstler darf und muss auch diese Verhältnisse kritisch hinterfragen können. Die Grenze hier setzen Menschlichkeit und die universellen unveräußerlichen Menschenrechte.

Drei Songs zum Thema Umbrüche und Katastrophen möchte ich in diesem Sinne aus Dylans Oeuvre hervorheben:

1. The Times They Are A-Changin‘ (unten zu hören)
Weil hier tatsächlich eine Zeitenwende besungen wird. Die Nachkriegs-Wirtschaftswunderzeit mit Konsumismus und Antikommunismus ist vorbei. Jetzt kommen die 1960er, die gesellschaftliche Veränderungen versprechen. Und er zeigt in biblischen Bildern auf, dass die Veränderung jeden einzelnen erfassen wird und der sich wiederum dazu auch verhalten muss. Wie groß die Hoffnung war und wie sie jäh vom konservativen Roll-Back und dem Neoliberalismus ab Anfang der 1980er abgebrochen und der Protest eingehegt wurde, sehen wir heute. Und doch hat dieser Song in seinem Vierklang aus protestierender Jugend, verständnislosen Eltern, blockierender Politik und zynischen Medien eine universelle Bedeutung für die spätkapitalistischen Gesellschaften. Und damit aneigbar für jede Jugendbewegung auch heutzutage. Sei es „Occupy Wall Street“, „March For Our Lives“ oder „Fridays For Future“.

2. Black Diamond Bay
Weil hier Charaktere und einzelne Schicksale am Ort der Katastrophe kunstvoll verwebt werden. Und menschliche Archetypen auftreten, die allesamt auf ihre Weise mit der Katastrophe umgehen. An Geld, Sex oder Flucht denken und nur sich sehen in der Stunde des Untergangs. Gleichzeitig sitzen andere dumpf am Fernseher, sagen „Was geht mich an, wenn in China ein Sack Reis umfällt“ und holen sich ein neues Bier. So wie hierzulande die Coronakrise bis vor wenigen Wochen tatsächlich auch gesehen wurde.

3. High Water Everwhere (unten zu hören)
Auch hier vereinzelnen sich die Menschen angesichts der Katastrophe. Alle wollen fliehen, wollen weg. So wie die Pariser in ihre Zweithäuser in die Provinz strömten, die Deutschen in den Norden oder nach Bayern und die New Yorker sich aus der Stadt nun nach Upstate New York begeben. Andere versuchen vor der Katastrophe zu fliehen, indem sie sich abschotten. Beide Varianten werden nichts nützen. Du musst Dich der Katastrophe stellen, Du musst Dich zusammen organisieren. Dylans Negativszenario ist gespeist von der amerikanischen Gesellschaft und deren Mentalität. Statt Gemeinsinns steht zu oft die Erfüllung individueller, persönlicher Ziele und mächtiger Partikularinteressen im Mittelpunkt. Siehe: Während das Gesundheitssystem kollabiert, bewaffnen sich die Amerikaner in der Krise und Trump hat vor allem die Kapitalinteressen und die Wirtschaft im Blick. Eine ganz große Katastrophe ist im Bereich des Möglichen. Hoffen wir, dass es nicht soweit kommt.

Sorry für die nicht immer schönen Gedanken. Aber auch in dieser Krise zeigt das Leben all seine Facetten. Nur mit dieser Einsicht können wir Kraft tanken, um dadurch zu kommen. Und ein Dylan-Album zu hören – z.B. „Desire“ mit seinen beschwingten, ernsten und packenden Momenten – ist nicht der schlechteste Zeitvertreib, wenn man soziale Kontakte vermeiden muss.

Bis morgen! Haltet die Ohren steif!

Best
Thomas



Darmstädter Dylan-Tag 2020: Plakat und Flyer gehen in Druck

15. Februar 2020

Es ist vollbracht. Das visuelle Zeichen des Darmstädter Dylan-Tages 2020 (18. April) steht. Basierend auf der Idee von Marco Demel hat die Grafikerin Ursula Raapke eine unverwechselbare Anmutung geschaffen, mit der in den nächsten beiden Monaten kräftig für die Veranstaltung geworben werden soll.

Grundlage des Designs ist eine Reminiszenz an das Tour-Plakat der legendären Rolling Thunder Revue von 1975. In der Mitte Dylan, um ihn herum in Kreisform die Bilder der Headliner, in Hintergrund eine Western-Lokomotive. Motto: „Da kommt was auf uns zu!“

Darunter sind in drei Blöcken die restlichen Referenten und Künstler sowie die Initiatoren und Moderatoren Thomas Waldherr & Marco Demel gesetzt.

Auch die Farbgebung in der Fläche und der Schrift korrespondiert mit dem Original Tour-Plakat von 1975.

Plakat und Flyer werden nun gedruckt, sind aber bereits im Internet und Social Media zu sehen. Das Plakat kann dann auch am Veranstaltungstag, am 18. April, vor Ort als Erinnerungsstück erworben werden.

Dieser überirdische Moment in Stuttgart

20. Dezember 2019

Das Dylan- und Americana-Jahr 2019 – eine Rückschau. Und eine Vorschau auf 2020

Die Dylan-Konzerte im Jahr 2019 gehören zu den Besten, die der Meister je gegeben hat. Ich falle hier also mal gleich mit der Tür ins Haus. Die Stimme großartig, die Musik inspirierend, die Performance cool und sensibel zugleich. Ob Augsburg im April oder Mainz und Stuttgart im Juli. Einfach stark. Und dann dieser überirdische Moment, als er „Girl From The North Country“ in Stuttgart spielt. Voller Wehmut, voller Schönheit. Gänsehaut! Auch die Erzählungen über die Konzerte in den Staaten im Herbst mit neuem Gitarristen und neuem Drummer hören sich sehr gut an. Dass er dann auch noch die Dylan-Cash-Sessions veröffentlichen lässt, setzt dem Ganzen das Sahnehäubchen auf. Wenn er doch nur endlich nochmal ein Album mit neuen Originalsongs veröffentlichen würde. Während Willie Nelson – noch älter und auch nicht mehr ganz gesund- fast ständig neue Songs herausbringt, herrscht bei Dylan-Fehlanzeige. Abwarten und „Heavens’s Door“-Whisley trinken scheint die Devise zu sein in diesen Tagen.

Americana wird immer politischer
Doch auch außer Dylan konnten wir noch weiteres interessantes beobachten. Z.B. dass das Americana immer politischer zu werden scheint. Mehr oder minder politische Bezüge zur Situation Amerikas hatten in diesem Jahr u.a. Songs und Alben von Trapper Schoepp, J.S. Ondara, Ryan Bingham, Son Volt, Our Native Daughters, Rhiannon Giddens, Eilen Jewell, The Felice Brothers und Tim Grimm. Der amerikanische Traum zerbröselt, die Nation ist sozial, politisch, kulturell und ethnisch gespalten, die Rassismus wuchert immer weiter und die Gewalt nimmt immer katastrophalere Ausmaße an. Und natürlich Trump. Viele singen dagegen an, wir werden sehen, was das Wahljahr 2020 bringt.

Country meets Hip Hop
Eine der vertracktesten Diskussionen im US-Musikjahr 2019 entzündete sich an dem Song „Old Town Road“ von Lil Nas X, einem eingängigen Country-Hip Hop-Hybriden, der just aus den Country-Charts gestrichen wurde, als er zum Höhenflug ansetzte. „Das ist kein Country“ sagen die einen, „Country war immer schon Fusion“, sagen die anderen. Aber es geht dabei letztlich um mehr, als um Geschmacksfragen. Hip Hop und Rap sind die musikalischen Ausdrucksformen einer aufmüpfigen jungen Black Community. Das hört der weiße Countryhörer nicht so gerne. Wenn dann nur in einer softeren Version von weißen Jungs und es als Mainstream-Country verkauft wird. Und wenn die Schwarzen dann auch noch das mit Countrymusik mischen, dann verbitten sich das viele weiße Musikhörer. Doch der Erfolg von Lil Nas X und auch von Blanco Brown gibt Hoffnung, dass hier endlich Grenzen fallen werden.

„Wir spielen unsere Americana-Konzerte im Pädagog, das heißt, wir haben einen Bildungsauftrag.“

Dom Flemons sah das bei unserem Treffen im Juni in Chicago auch so. Einer der denkwürdigsten Momente in diesem Jahr bei unserer an Höhepunkten reichen USA-Reise. Ebenso wie der Besuch des Dylan-Kongresses in Tulsa, Oklahoma nebst Visite des Woody Guthrie Centers.

Von Newport nach Woodstock
2019 – Jahr der Jubiläen: Meine inhaltlichen Schwerpunktthemen waren in diesem Jahr „100 Jahre Pete Seeger“ und „50 Jahre Woodstock“. In Vorträgen in Tübingen, Malente, Darmstadt und Ingelheim habe ich über den Weg von Newport und Woodstock referiert und was die beiden Festivals mit Seeger und Dylan verbindet.

„Americana im Pädagog“
Zu Seeger konnte ich mich bei „Americana im Pädagog“ Anfang Mai über zwei ausverkaufte Pete Seeger Tribute-Konzerte freuen. Cuppatea und ich haben das Pete Seeger-Programm dann im Oktober nochmal in Münster aufgeführt.

Weitere Höhepunkte bei „Americana im Pädagog“ waren in diesem Jahr das ebenfalls ausverkaufte Konzert von Menna Mulugeta mit den Songs der schwarzen amerikanischen Sängerinnen im Februar und der genauso ausverkaufte Bob Dylan-Abend zum Abschluss des kleinen Jubiläums „5 Jahre Americana im Pädagog“ Ende November. Die Konzerte von „Americana im Pädagog“ sollen immer unterhalten, aber sie sollen auch durchaus zum Nachdenken anregen. Und wenn ich mir Programme zu Pete Seeger, Woody Guthrie oder Bob Dylan überlege, dann habe ich durchaus auch den Anspruch, Zusammenhänge zu erklären und auf gesellschaftliche Hintergründe hinzuweisen. „Wir spielen unsere Konzerte im Pädagog, das heißt, wir haben einen Bildungsauftrag, sage ich dann immer scherzhaft.

Wie gesagt, im kommenden Jahr sind US-Präsidentschaftswahlen und sie werden entscheidend sein für die Zukunft dieses Landes, auf das so viele Menschen ihre Träume gebaut haben. Ich werde dies in verschiedener Form aufgreifen. Bei meinen Seminaren, mit dem Themenmonat „Voices Of The Other America“ in meiner „Americana“-Reihe, einem literarisch-musikalischen Programm zum Thema USA und einem besonderen Konzertformat in der zweiten Jahreshälfte. Und möglicherweise gelingt es mir, meine publizistische Produktion zu diesem Thema in Richtung einer größeren Form zu lenken, aber das werden wir sehen.

Blick nach vorn
Es wird also ein aus vielerlei Hinsicht wichtiges Americana-Jahr, das Jahr 2020. Es geht um einiges, aber jetzt ist einfach die Zeit mit kulturellen Beiträgen in die politische Debatte einzugreifen. Mit guter Musik macht das besonders viel Freude!

Bleibt mir nun noch fröhliche Weihnachten und einen guten Rutsch zu wünschen! Auch in der Cowboy Band-Welt kehrt nun Ruhe ein, im Januar geht es hier wieder weiter. In diesem Sinne wie immer an dieser Stelle Santa Bobs Weihnachtsgruß!