Interpretationsansätze zu einem der ungewöhnlichsten und interessantesten Songs von Bob Dylans Meisterwerk „Rough And Rowdy Ways“
Im Netz ist unter Dylan-Afficionados ein kleiner Intertextualitäts-Wettbewerb ausgebrochen. Jeder kennt noch eine Zeile, einen Vers, den der Meister sich aus anderen Werkzusammenhängen entliehen hat. Natürlich habe ich früh bemerkt, dass die Eingangszeilen aus „Key West“ aus Charlie Pooles „White House Blues“ stammen. Und dass die letzte Zeile aus „Black Rider“ – „you’ve been on the job too long“ – ihr Vorbild in der Schlusszeile der traditionellen Mörderballade „Duncan And Brady“ hat: „you been on the job too long“, die in dem alten Song als „he been on the job too long“ als eine Art Refrain immer wiederkehrt. Dylan hat den Song Anfang der 2000er immer wieder live im Programm gehabt.
Doch da diese Zeilensucherei meiner Meinung nach außer dem Nachweis von Dylans enormem musikalischem Wissen, und dem Eifer und der Freude der Fans am Finden, wenig Erkenntniswert hat, und somit reiner Sport wird, habe ich kein Bestreben mich hier offensiv zu beteiligen. Mich treibt eher eine zielgerichtete Suche an. Wenn meine These, die ich über einige Artikel an dieser Stelle zuletzt ausgebreitet habe, stimmt, und Bob Dylan sich wie kaum ein anderer weißer amerikanischer Künstler in besonderer Weise den afroamerikanischen Beiträgen zur US-Kultur verbunden fühlt, dann müsste dies auch auf diesem Album zu finden sein.
Dylans Verbundenheit mit der afroamerikanischen Kultur
Natürlich schauen wir da zuerst auf „Goodbye Jimmy Reed“. Das ist offensichtlich, denn der Künstler war ein Vertreter des Chicago-Blues. Doch was steckt in diesem Song – der allgemein als Tribute für Reed angesehen wird – wirklich drin?
Die ersten beiden Strophen haben deutliche religiöse Bezüge. Und Dylan zeigt sich hier wie auch anderen Stellen des Albums durchaus multireligiös. Während er in „Key West“ „limbo spirituals and hindu rituals“ erwähnt, sind hier Juden, Katholiken, Moslems und Protestanten vertreten. Und Jimmy Reed soll ihm die „Old Time Religion“ geben. Das ist der Name eines Spirituals, der zum ersten Mal 1872 als Titel der afroamerikanischen Gesangsgruppe „The Fisk Jubilee Singers“ publiziert wurde. 1891 erwarb der weiße Liedersammler Charles Davis Tillman die Rechte am Song und popularisierte ihn wie andere schwarze Gospels unter den weißen Südstaatlern, so dass die frommen Südstaatler – ob schwarz oder weiß – im Jim Crow-Land der Rassentrennung die gleichen religiösen Lieder sangen. Und damit eigentlich die ganze menschenverachtende Rassentrennung völlig absurd machte und für fromme Geister eigentlich auch „gotteslästerlich“ gewesen sein müsste.
Die ganze zweite Strophe über soll Jimmy Reed dann die frohe Botschaft verkünden. Interessante Vorstellung für einen Bluessänger. Diese waren ja bei frommen Schwarzen nicht unumstritten, denn ihre weltlichen und lebensbejahenden Songs über Liebe, Leben, Genuss, Leiden, Suff und Tod waren denen zu weit weg von Gottes Wort und zu nah an alten afrikanischen Traditionen.
Religiösität und Rassismus
Dann folgt der Perspektivwechsel. Der Sänger singt nun von sich. Dass man auf ihn nicht viel gegeben habe, da er nicht sehr kunstfertig an der Gitarre gewesen sei. Auch nie gereizt oder stolz gehandelt hätte oder gar seine Schuhe ins Publikum geworfen hätte. Jimmy Reed könne sich eine Juwele an die Krone stecken, er lösche das Licht. Was ist das? Ist das eine Selbsteinschätzung Dylans oder eine fiktives Ich, das neben dem großen Jimmy Reed sich ganz klein fühlt?
In der vierten Strophe erzählt der Sänger wie schlecht – mit rassistischer Gewalt? – er behandelt wird. Und hätte nichts, womit er kämpfen könne, außer einem Fleischerhaken. Wieder ein interessantes Bild. Denn wie so viele Schwarze in der Zeit der „Great Migration“ verließ Jimmy Reed seine Heimat in Mississippi in den 1940er Jahren, um im Norden Arbeit und Freiheit zu finden. Was er vorerst bekam, war ein Job im Schlachthof. Der Sänger aber wird schlecht behandelt und kann kein Lied singen, dass er nicht versteht und er kann auch die Platte (von Jimmy Reed?) nicht spielen, weil die Nadel steckengeblieben ist.
Die fünfte Strophe ist dann eine des verzweifelten Begehrens. Scheinbar steht er auf die Gefährtin von Jimmy und drückt das auch durchaus witzig aus – Transparent woman in a transparent dress, Suits you well, I must confess – dann aber scheint er die Frau wirklich sexuell zu begehren – I break open your grapes, I suck out the juice – um dann ein böses Bild des Verlangens, einer „Amour fou“ zu malen: „I need you like my head needs a noose“. Mit der besonderen Konnotation, dass die Schlinge bis in die 1960er Jahre für viele Schwarze im Süden eine reale Gefahr war.
In der letzten Strophe schließlich scheint der Sänger Jimmy Reed zu fragen, was er hier mache und der antwortet ihm, er wolle nur mal nachsehen wo der Herr denn in diesem verlorenen Land liege. Beendet wird der Song mit der Anrufung Jimmy Reeds „Can’t you hear me calling from down in Virginia?“ „Down In Virginia“ ist ein Titel Jimmy Reeds, den Dylan hier für seine Frage nutzt.
Doppelbödig und vertrackt
Die große Frage des Songs aber ist: Wer singt hier über Jimmy Reed und was erlebt er konkret? In meiner ersten Bewertung des Songs habe ich eine Geschichte aus der Great Migration heraus gelesen. Da singt einer unten aus Virginia, der dort nicht losgekommen ist und keine Karriere in Chicago gemacht hat. Der immer noch den alten Country Blues spielt – ohne Mätzchen und Verstärkung. Der immer noch zwischen Blues und Gospel gespalten ist. Der Rassismus und Gewalt aushalten muss. Der davon träumt, Jimmy Reeds Leben zu führen, inklusive dessen Freundin zu begehren. Das Ende ist das Flehen eines Verlorenen. Ich finde das durchaus eine haltbare Interpretation des Songs.
Es gibt aber auch die Deutung, dass der Sänger Dylan selber ist, der ganz bescheiden auf sein Vorbild – Reed hatte auch immer seine Mundharmonika im Gestell um den Hals – schaut. Ihn erhöht und sich selbst relativiert. Wobei das auch durchaus ironische Anteile haben könnte, denn gerade Dylan reagierte auch schon mal gereizt auf sein Publikum, ist immer noch gerne als arrogant verschrien, auch wenn das ein völlige Nicht-Verstehen der Kunstfigur Bob Dylan darstellt. Und gerade im letzten Jahr hat er zwar keine Schuhe geschmissen, aber in Wien seinem Publikum eine klare Ansage gemacht, dass er keine Fotos im Konzert wünscht.
Wie so oft bei Dylan ist der Text doppelbödig und vertrackt. Aber öffnet dadurch viele mögliche Bedeutungsebenen. Dylan mag die Ambivalenz, er mischt auch hier wieder die Perspektiven. Vielleicht will er in diesem Song auch in einem armen Schwarzen im Süden aufgehen, leiht sich dessen Person, dessen Charakter aus? Diebstahl aus Liebe auch hier wieder. Dylan kennt die Geschichte von Sklaverei und Rassismus und er kennt auch die politische und kulturelle Geschichte seines Landes zu genau, als wüsste er nicht, wie seine Bilder, seine Zitate, seine kulturellen Einsprengsel wirken.
Wie auch bei Blind Willie McTell dient bei „Goodbye Jimmy Reed“ die vermeintliche Hommage an einen afroamerikanischen Musiker letztendlich dazu, amerikanische Themen wie Religiösität, Armut, Rassismus und Populärmusik in ihrer komplexen Verschränktheit zu verhandeln.
„Goodbye Jimmy Reed“ ist meiner Meinung alles andere als ein Nebenwerk, sondern einer der interessantesten Songs eines Albums – es gibt im Übrigen keine Nullnummer und keinen Füller darauf – das vor allem ein Blick Dylans auf die eigene und auf die amerikanische Geschichte ist. Und es ist einfach ein super Song und klasse Musik!