Das vor etwas mehr als 50 Jahren erschienene Album gehört zu den unterschätztesten Dylan-Werken
Ein Album bleibt einem auch oftmals im Gedächtnis, weil seine Lieder über die Jahre ein Eigenleben entwickelt haben. Und über das Album, das scheinbar gar keinen so großen Stellenwert hat, hinauswachsen. So wie das von der Kritik als solide Rückkehr zu alter Form gewertete , aber nicht wirklich begeistert aufgenommene „New Morning“. Die Songs wachsen, weil man sie immer wieder und unter ganz anderen Umständen trifft. So wie einige Songs dieses Albums, das am 19. Oktober 1970, also vor etwas mehr als 50 Jahren veröffentlicht wurde.
Dylan, der progressive Traditionalist
Bob Dylan war da noch keine 30 Jahre alt und schien doch Lichtjahre entfernt von dem spirreligen Avantgarde-Folk-Rocker der Mittsechziger Jahre. Bob Dylan lebte gerade seine Inkarnation als treusorgender verheirateter Familienvater. Eine Phase, die bereits Mitte der 1970er wieder vorbei sein sollte, als er sich wieder ins Getümmel des Greenwich-Village warf.
Die politische Linke, die ihn zur Leitfigur erkoren hatte, hatte am frühsiebziger Dylan ganz schön daran kauen. Während es überall im Land zu politischen Auseinandersetzungen kam, oftmals militant, saß der Barde in Woodstock und nahm erst ein fragwürdiges „Self Portrait“ auf und dann dieses Album „New Morning“, das von Liebe, Natur, Schicksal, Verantwortung, Selbstverständnis und Gott handelte.
Dylan erkundete hier die Sphäre des Landlebens voll aus. Mit den Basement Tapes-Aufnahmen hatte er mit The Band das Americana erfunden, in dem er die verschiedenen amerikanischen populären Musikgenres Folk, Country, Gospel, Soul und Rock’n’Roll miteinander verband. Mit „Nashville Skyline“ eignete sich das musikalische Idiom des konservativen Südens an. Dylan hatte keine Lust mehr auf Avantgarde. Er entpuppte sich hier als, das, was er bis heute geblieben ist: Ein progressiver Traditionalist.
Denn seine Geschichten, seine Lyrik, die Schlüsse, die er zieht, sind keineswegs im konservativen Amerika verhaftet. Da ist er geprägt durch die Beatniks, durch Guthrie, durch Steinbeck. Seine musikalischen Ausdrucksformen sind jedoch in den traditionellen musikalischen und kulturellen populären Formen der einfachen, arbeitenden Leute verhaftet. Er ist in einer Bergarbeiterstadt in den Zeiten des New Deal groß geworden, er hat die Hillbilly Music – egal ob sie von Hank Williams, Woody Guthrie oder Chuck Berry stammt – für sich adaptiert. Und daher konnte er recht wenig mit Psychedelischer Musik, Avantgarde-Rock á la Frank Zappa oder der Hippie-Bewegung anfangen. Nun hat er hat ganz klassisch amerikanisch einen Job zu erledigen, und der heißt Familienvater. Und ebenso typisch amerikanisch zieht er weiter, wenn er meint, ihn erledigt zu haben. Dann nimmt er wieder einen anderen Job an: Den des „Entfant Terrible“ im Village-Boheme.
Die zentralen Songs und was aus ihnen wurde
Doch zurück zu „New Morning“. Das Album ist also die musikalische Bearbeitung dessen, was ihn zu der Zeit als Familienvater beschäftigt. Verantwortung für andere übernehmen: Sorgen, pflegen, erziehen, lehren und Stütze sein. Und wie er das ausspielt. Wie bei The Man In Me: „The man in me will do nearly any task/ And as for compensation, there’s little he would ask/ Take a woman like you/ To get through to the man in me.“ Dylan wäre nicht Dylan, würde da auch nicht ein Funken Ironie oder Distanz mitschwingen.
Das haben auch die Coen-Brüder auf dem Plan gehabt, indem sie Dylans-Hymne“ des männlichen Beschützers und Ernährers ausgerechnet als Filmmelodie für „The Big Lebowski“ nutzten. Die Parodie eines faulen, hedonistischen, verantwortungslosen Alt-Hippie. Der aber plötzlich inmitten eines absurden, irrwitzigen Kriminalfalls gar nicht daran vorbeikommt, Verantwortung zu zeigen, und sich um andere zu kümmern.
Dylan spielte den Songs erstmals live auf der 1978er Welt-Tour, dann wieder in seiner Never-Ending-Tour mit bescheidener Regelmäßigkeit. Hier hörte ich dann auch erstmals live 1993 in Wiesbaden, als die Songs sich durch lange Instrumentalpassagen auszeichneten.
If Not For You ist eng mit George Harrison verbunden, mit ihm spielte Dylan die erste, nicht auf „New Morning“ veröffentlichte Version ein. Harrison nahm seine Version des Songs auf seine erfolgreiche Scheibe „All Things Must Pass“. Zusammen spielten sie den Song im Soundcheck zum „Concert For Bangladesh“ und Harrison trug den Song dann auch bei Dylans 30-jährigem Plattenjubiläum 1992 im Madison Square Garden vor. Dylan selbst spielte den Song erstmals 1992 (!) live und immer wieder bis 2004. Seitdem nicht mehr. Eine schöne Version veröffentlichte auch Olivia Newton-John auf ihrem gleichnamigem Solo-Debütalbum 1971.
If Not For You ist eine bedingungslose Liebeserklärung in den schönsten Worten. Ohne den anderen geht es gar nicht. Ob das aber wirklich für seine Frau Sara oder aber für ein höheres Wesen, das er verehrt, geschrieben ist, kann durchaus als ambivalent bezeichnet werden. Es wäre damit einigen Songs aus seiner Born Again-Periode und seinem Alterswerk „I’ve Made Up My Mind to Give Myself to You“ vergleichbar.
Vielschichtig ist auch Went To See The Gipsy. Die einen meinen, es handele von einem Treffen mit Elvis, während dies selbst vor ein paar Jahren verneint hat. Er hätte Elvis nie getroffen. Und ich glaube auch, dass auch hier das Abklopfen eines Dylans-Songs auf einen einzigen, konkreten, wahren Kern nicht funktioniert. Dylan ist der Meister der vielen Geschichten in einer. Des Perspektivwechsels und der Ambivalenz. Der Gypsy steht hier eher für Stardom und Gurus, die Anfang der 1970er schwer angesagt waren. Die Beatles gingen zum Maharashi, andere zu lokalen Gurus in die Landkommune. Ich sehe den Song daher in seiner Skepsis gegenüber den Gurus ganz nah an „Quinn, The Eskimo“ (Basement Tapes) und den erst durch Another Self Portrait bekannt gewordenen Song „Working On A Guru“. Dylan setzte sich in seinem abgeschiedenen Refugium scheinbar ganz mit diesen durchaus fragwürdigen Begleiterscheinungen der Pop-Kultur auseinander. Wohl wissend, dass er selber unfreiwillig für viele solch ein Guru darstellte. In seinen „Chronicles“ hat er sehr drastisch geschildert, wie seine selbsternannten Jünger seinen Vorgarten zertrampelten. Dylan hat den Song noch nie live gespielt.
If Dogs Run Free ist 1970 einer der bis dato ungewöhnlichsten Dylan-Songs überhaupt. Denn Dylan adaptiert hier Jazz-Elemente. Wie der Titel schon andeutet geht es hier das große Unbeschwerte. Man genießt Natur, Luft und Bewegung. Es hat etwas ganz lazy-haftes entspanntes und spielerisches. In der Originalversion singt Dylan auch ganz lässig und wird begleitet von Maeretha Stewart, die um Dylan-herum Scat-Gesang improvisiert. Eines der interessantesten Stücke auf der Platte. Dylan hat den Song live erstmals am 1. Oktober 2000 in Münster gespielt, das letzte Mal am 4. November 2000 in Metz, in Frankreich.
New Morning, der Titelsong, kommt an siebter Stelle. Eigentlich ein ziemlich leichtgewichtiges Liedchen, wieder wird hier der Landidylle gefrönt. Kann aber auch immer als Metapher für eine neue Schaffensphase interpretiert werden, wobei Dylan bereits seit 1966/67 in dieser ländlichen Schaffensphase ist, die erst so richtig mit 1974er Comeback-Tour endet. Es ging eher um den Ausdruck einer neuen Schaffenskraft nach dem lauen „Self-Portrait“.
Mit der Auslegung des Songtitels spielt dann Dylan selber, als er auf den Konzerten rund um seinen 50. Geburtstag 1991 sein Programm stets mit „New Morning“ beginnt. Und zwar mit einem ewig andauernden instrumentalen Einstieg, als die Band scheinbar endlos gezwungen ist, das Grundmotiv immer und immer wieder zu wiederholen, bevor der Meister endlich ans Mikro findet. Stets wirkt Dylan, wie ich es im Juni 1991 in Offenbach erlebe konnte, anfangs derangiert, bevor er richtig ins Konzert und in starke Form fand. Er spielte es bis 1992, hatte es dann wieder 2005 und 2006 im Programm. Danach nie mehr. Ich hatte das Glück, das selten gespielte Stück zudem 2005 in Wetzlar und 2006 in Gelsenkirchen zu hören. Und da weitaus strukturierter und klarer als in Offenbach.
Three Angels ist dann wieder so eine Art religiöse Parabel. Eine typische geschäftige Großstadt-Szene – der Gegensatz zum ansonsten auf diesem Album propagierten Landleben – mit unterschiedlichen Menschen, Zeichen des Konsums, Bilder einer Stadt, die niemals schläft und daher wohl auch nicht die Engel sieht und hört, die mitten in ihr unterwegs sind. Möglicherweise hat Dylan-Freund Wim Wenders sich hier auch zu seinem Film „Der Himmel über Berlin“ inspirieren lassen. Wieder ein ganz ungewöhnlicher Song. Dylan hat den Song, dessen Text vor einer immer wiederkehrenden Melodiefolge rezitiert anstatt gesungen wird, niemals live aufgeführt.
Den Abschluss bildet dann wieder ein Song mit religiösen Bezügen. Father of Night ist im Grunde ein gesungenes Gebet und seine Interpretation des zentralen jüdischen Gebets „Amidah“. Also eine ganz klare öffentliche Verortung im Judentum. Auch diesen Song hat Dylan nie live aufgeführt. Manfred Mann, der schon aus „Quinn The Eskimo“ den Hit „Mighty Quinn“ gemacht hat, hat ihn dann als „Father of Day, Father of Night“ in sein Repertoire aufgenommen.
Conclusio
Mögen einen die Themen des Albums vielleicht nicht so recht begeistern – die sind überwiegend eher harmlos und harmonisch – so muss man die Umsetzung einfach loben. Es ist nicht sein stärkstes Album, aber es zeigt alle seine Stärken auf: Eingängige Melodien, tolle Lyrics, gute Arrangements und eine überzeugende Performance schaffen ein Album, dessen Güte man 1970 nur so halb erkennen wollte und man in den 1980ern aber wahrscheinlich bejubelt hätte.
Dylan experimentiert mit Jazz und Gospel-Rezitation und musikalischem Gebet, dazwischen ein paar Ohrwürmer und genug Rätsel, um alle Dylanologen zu beschäftigen. Für mich ein Album, das ich erst spät aber dafür umso mehr schätzen gelernt habe.