Archive for Dezember 2022

Dylan spricht!

20. Dezember 2022

Warum Dylans Interview im Wall Street Journal wieder sehr aufschlussreich ist und damit den passenden Abschluss eines großen Dylan-Jahres bildet

Bob Dylan, © Sony Music

Dylans großes Interview zum neu erschienen Buch im „Wall Street Journal“ ist schlichtweg genauso lesenswert und informativ wie das Buch selbst. Denn Dylan lässt uns hier an seinen Gedanken, seinen künstlerischen Antrieb und seinen Arbeitsprozess teilhaben. Und dabei wird – wie auch beim Buch – klar: der Mann ist auch mit 81 Jahren ungebrochen kreativ, dabei sicherlich mittlerweile auch etwas sehr abgeklärt. Und wenn er auch im Buch hier und da mal in misogynen Anwandlungen einen raushaut – so ist er grundsätzlich doch zutiefst emphatisch und human und der Kunst verpflichtet.

Selbstbewusstsein und ironische Distanz bezüglich der eigenen Bedeutung

Dabei zeigt auch dieses Interview, dass zwischen Information und Selbststilisierung beim alten Dylan oft nur ein schmaler Grat liegt. Wenn er erzählt, die Enkel dachten, er hätte „Oh! Susanna“ geschrieben und die Andrew Sisters gekannt, so kann das sowohl die Anekdote eines liebenden Großvaters, als auch eine Selbsteinordnung als amerikanischer Populärmusiker zwischen Stephen Foster und den Andrew Sisters sein. Und wenn er humorvoll plaudert, dass, wenn Ringo Starr sein Drummer gewesen wäre, dann hätte er auch noch die Beatles sein können, dann zeigt das sowohl ein ironisch distanziertes Verhältnis als auch ein großes Selbstbewusstsein bezüglich seiner immensen musikhistorischen Bedeutung.

Die interessantesten Passagen des Interviews betreffen die moderne Technik und die Corona-Zeit. Dylan ist weder ein rückwärtsgewandter Maschinenstürmer noch ein Schwurbler. Auch wenn sie ihm – wie vielen anderen auch merkwürdig vorkam – hat Dylan ganz pragmatisch die Lockdown-Zeit genutzt, war künstlerisch und handwerklich tätig.

Technologie kann helfen und schaden

„Denken Sie, dass Technologie den Alltag und insbesondere die Kreativität unterstützt oder behindert?“, fragt Interviewer Jeff Slate. Und Dylan antwortet: „Ich denke es geht beides. Es kann die Kreativität behindern, oder es kann eine helfende Hand reichen und ein Assistent sein. Schöpferkraft kann durch den Alltag, das gewöhnliche Leben, das Leben im Hamsterkäfig aufgestaut oder verhindert werden. Eine Datenverarbeitungsmaschine oder ein Softwareprogramm könnte Ihnen helfen, da auszubrechen, Sie über den Berg zu bringen, aber Sie müssen früh aufstehen.“ Und: „Technik ist wie Zauberei, sie ist eine Zaubershow, sie beschwört Geister herauf, sie ist eine Verlängerung unseres Körpers, wie das Rad eine Verlängerung unseres Fußes ist. Aber es könnte der letzte Nagel sein, der in den Sarg der Zivilisation getrieben wird; wir wissen es einfach nicht.“

Und dann erinnert Dylan daran, dass der technische Fortschritt immer schon janusköpfig war. Gutes wie Schreckliches bewirkt hat. Brücken gebaut und Atombomben entwickelt. Die Frage ist immer, was macht die Menschheit aus welchem Antrieb aus ihren jeweiligen technischen Möglichkeiten.

Jede Tour ein eigenes Kunstwerk

Seine Aussagen zum Songschreiben und zum kreativen Prozess zeigen einen 81-jährigen, der sowohl einen unbändigen kreativen Input und Output hat, aber wohl auch seine Ruhepausen braucht. Lesenswert sind auch seine Aussagen zum Tourleben: „Du bist der Herr deines Schicksals. Du manipulierst die Realität und bewegst dich mit der richtigen Einstellung durch Zeit und Raum. Es ist kein einfacher Weg, kein Spiel und Spaß, es ist kein Disney World. Es ist ein offener Raum mit Betonpfeilern und einem Eisenboden, mit Verpflichtungen und Opfern.“

Hier zeigt sich erneut Dylans Arbeitsethos. Eine Konzerttour ist für ihn nicht nur die Möglichkeit zur Reproduktion seiner Kunstwerke vor Publikum, sondern ist selbst ein Kunstwerk. Er gestaltet Raum und Zeit, indem er für mehrere Woche an den verschiedensten Orten seine Musik vor Menschen spielt, beeinflusst er die Realität des großen Ganzen und jedes einzelnen Zuhörers. Jede Tour von Dylan, jede Show von Dylan ist anders. Auch wenn die Setlist jeden Abend die gleiche ist.

Den Schlüssel dazu, warum das so ist, liegt in der Antwort auf die Frage nach seinem favorisierten Musikgenre. Was er nennt – „Western Swing, Hillbilly, Jump Blues, Country Blues, Doo-wop, The Ink Spots, The Mills Brothers, Lowland ballads, Bill Monroe, Bluegrass, Boogie-Woogie“- ist jeden Abend in anderer Mischung in seinen Songs zu hören. Und die Akzentuierung der Mischung kann in einem Song von Abend zu Abend wechseln.

Erklärer seiner selbst

Und so wird Dylan dann doch irgendwie im fortgeschrittenen Alter ein Erklärer seiner selbst. Aber wie er das in diesem Interview wieder macht, ist lesenswert und reiht sich neben großartigen Konzertabenden und der Veröffentlichung eines wundervollen Buches in die tolle Bilanz dieses Jahres ein. Und schafft Vorfreude auf das Dylan-Jahr 2023!

Der Cowboy Band Blog wünscht damit allen seinen Lesern frohe Weihnachten und einen guten Rutsch! Weiter geht es hier im neuen Jahr!

Und natürlich wieder viel Freude mit Must Be Santa!

Rise up Singin – jetzt auch auf CD!

20. Dezember 2022

Im Bühnenprogramm „Rise Up Singin‘“, das im April auch in der Darmstädter Americana-Reihe zu sehen war, erzählt Steffen Lehndorff vom New Deal der 1930er Jahre und zieht Verbindungslinien zu den heutigen Herausforderungen, Konflikten und Bewegungen. Das Songwriter-Duo Cuppatea (Sigrun Knoche und Joachim Hetscher) beschäftigt sich – neben ihren eigenen Liedern zu aktuellen Themen – schon lange mit den Songs dieser Zeit sowie der Americana-Musik. Sie spielen in diesem Songs aus Musical, Folk, Blues und Oper – u.a. von Woody Guthrie, Leadbelly oder George Gershwin – und lassen damit den „Spirit“ dieser Zeit wieder aufleben. 

Nun, kurz vor Weihnachten, sind einige der markantesten Songs des Programms von Cuppatea aufgrund vieler Nachfragen endlich auf CD veröffentlicht worden. Die Spanne der Songs reicht von „No Depression in Heaven“ von der Carter Family über „The Grand Coulee Dam von Woody Guthrie bis hin zum aktuellen „Lift Every Voice To Sing“ und schließt damit den Bogen vom New Deal bis in die Jetztzeit der Black Lives Matter-Proteste.

Es ist das Verdienst von Cuppatea, diese Musik zusammenzudenken und zusammenzubringen. Mit künstlerisch-politischer Energie, musikalischem Können und performativer Eindringlichkeit. Ein wichtiges und hörenswertes Album.

Die Platte ist hier zu beziehen: https://cuppatea.de/news/last-minute-geschenk-unsere-neue-cd/

Kammerspiel mit Fragezeichen

9. Dezember 2022

Warum Julien Condemines Film „Like A Rolling Stone“ über die Aufnahmesession des Rock-Klassikers letztlich unbefriedigend bleibt

Copyright: Wikimedia Commons

Den kannte ich noch gar nicht. Ein Freund aus Dylan-Fankreisen hatte mir den Tipp gegeben. „Like A Rolling Stone. 1965, im Studio mit Bob Dylan“ ist bis 3.12.2023 in der Arte-Mediathek verfügbar. Eine französische TV-Produktion unter der Regie von Julien Condemine, die dem Phänomen der Entstehung der Aufnahme von „Like A Rolling Stone“ nachgeht. Angeblich auf dem Buch von Greil Marcus basierend.

Doch Greil Marcus liefert hier nur den Ausgangsplot, all seine zeitgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Reflexionen rund um diesen Meilenstein der Rockmusik spielen hier keine Rolle. Regisseur Julien Condemine, Dylan-Darsteller Sébastien Pouderoux und dem Team geht es alleine um die Interaktion Akteure untereinander und dem eigentümlichen Verlauf der Aufnahmen. Man führt ein Kammerspiel auf.

Musikalisches Kammerspiel

Das Setting: Am 15. Juni 1965 geht Bob Dylan ins Studio, am Ende soll „Highway 61 Revisited“, sein neues Album – das erste, das vollständig elektrisch verstärkte Musik enthält – aufgenommen worden sein. Als erstes stellt man sich dem Song „Like A Rolling Stone“. Produzent ist Tom Wilson, als Studiomusiker sind Russ Savakus (E-Bass), Bob Bushnell (Bassgitarre), Bobby Gregg (Schlagzeug), Bruce Langhorne (Tamburin) und Paul Griffin (Klavier) mit dabei. Als Leadgitarrist hat Dylan den virtuosen Mike Bloomfield von der Paul Butterfield Blues mitgebracht, Tom Wilson hat noch Al Kooper als 2. Gitarristen ins Studio geholt.

Grundsätzlich ist die Aufnahmesession interessant, kurzweilig und durchaus auch humorvoll dargestellt. Schließlich hat man es hier mit Regisseur und Schauspielern der Comédie-Française zu tun, die ihr Handwerk verstehen. Nur ist die Vorlage und wie einzelne Figuren angelegt sind, so gar nicht auf der Höhe einer möglichen gesellschaftshistorischen Verortung oder entsprechen schlichtweg nicht den realen Vorbildern.

Warum ist Tom Wilson hier weiß?

Ein Knackpunkt ist die Figur des Produzenten. In diesem Film wird Tom Wilson als weißer, älterer Jazz-Produzent dargestellt, der mit den Gepflogenheiten der Rockwelt fremdelt. Der reale Tom Wilson war zum Zeitpunkt der Aufnahme 34 Jahre alt und Afroamerikaner. Ein schwarzer Bildungsbürger, der zu dieser Zeit der einzige schwarze Produzent im Mainstream der amerikanischen Popmusik. Obwohl er anfangs tatsächlich Dünkel gegen Folk und Rock hegte, schuf er in den 1960er Jahren mit weißen Musikern wie Bob Dylan, The Velvet Underground, Simon & Garfunkel oder Frank Zappa Meisterwerke der Popmusik. Diese Geschichte wäre spannend gewesen und warum ab einem gewissen Zeitpunkt das Dylan-Lager lieber mit dem weißen Country-Produzenten Don Johnston zusammenarbeitete.

Greil Marcus‘ Buch war nur mittelbar die Vorlage des Films, Copyright: Hachette Book Group

Doch leider beschränkt sich die Sensibilität dieser Inszenierung auf ein paar Allgemeinplätze, wenn sich die Protagonisten immer wieder einmal aus der Handlung ausklinken und sich direkt ans Publikum wenden.

Dylan als Autist

Zweiter Knackpunkt ist natürlich die Dylan-Figur. Hätte Dylan tatsächlich so im Studio agiert, er wäre schwer der produktive und kreative Kopf der Rockmusik der Mittsechziger geworden. Lockenkopf, Mundharmonika, Sonnenbrille und gepunktetes Hemd reichen nicht. Sébastien Pouderoux zeigt uns Dylan als Autisten. Arrogant und Unnahbar. Einer, der in Interviews nur verwirrt wirkt – und nicht etwa angriffslustig und originell wie er damals wirklich war. Da ist nichts von der kreativen Spirreligkeit des damaligen Dylan zu sehen. Da fehlt einfach die Energie. Pouderouxs Dylan irrt ziellos durch die Kulisse und wird damit im Laufe des Films immer mehr zur Nebenfigur.

Es gibt schöne Szenen und Situationen mit Al Kooper, der sich an die Orgel mogelt oder Paul Griffin, der sich das ganze Chaos nicht mehr antun will. Aber warum oder wie eigentlich wirklich der Song zu dem denkwürdigen Stück wurde, bleibt nebulös. Wer mit Dylan noch nie was anfangen konnte, wird sich wieder bestätigt fühlen, wer tiefer bohren will in Sachen Dylan, die 1960er und dem Aufstieg des Folk-Rock, bleibt unbefriedigt zurück.

Bemühte dramatische Bearbeitung

Es gibt mittlerweile überall in der Welt viele dramatische Bearbeitungen von Dylans Wirken und seiner Bedeutung für die Rockmusik. Mal bessere, mal schlechtere. Mal enthusiastisch, mal bemüht. Diese hier fällt in die zweite Kategorie und besitzt ihre Legitimität allenfalls als Versuch in den Kammerspielen eines Schauspielhauses. Als Bob Dylan-Stück im französisch-deutschen Kulturkanal Arte hat sie aber nichts verloren.

Zum Film auf Arte geht’s hier:

https://www.arte.tv/de/videos/099752-000-A/like-a-rolling-stone/

Greil Marcus: Folk Music. A Bob Dylan Biography in Seven Songs

3. Dezember 2022

Das neue Buch des Popkritik-Altmeisters erfreut und erhellt, hat aber nicht die Dichte und Stärke früherer Werke

Greil Marcus ist der vielleicht legendärste lebende Popmusikjournalist. Sein ganzes Arbeitsleben lang hat er immer wieder über die Musik von Bob Dylan geschrieben (in der nächsten Ausgabe von Key West beschäftige ich mich systematisch damit). Wohlgemerkt über die Musik und weniger über Dylans Leben. Und so ist diese neue Bob Dylan-Biografie in sieben Songs ebenso wenig eine Biographie wie Dylans 66 Essays über Songs eine Philosophie darstellen. Und beides ist auch überhaupt nicht schlimm. Gut lesbar und erhellend sind beide.

Musik im geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext

Greil Marcus ist ein Meister seines Fachs, wenn es darum geht Musik in einen gesellschaftlichen, historischen, oder ideengeschichtlichen Kontext zu stellen. „Lipstick Traces“, „The Dustbin Of History“ oder „Invisible Republic“ sind popjournalistische Meisterwerke und haben mich stark geprägt in meiner Art, über Musik zu schreiben. Vielleicht war daher die Erwartung an den „neuen Marcus“ dann auch zu hoch. Denn so vergnüglich und erhellend das Buch ist, am Ende hätte ich mir doch mehr erwartet in Sachen Einblick in Dylans Werk und seiner Verbundenheit mit den Zeitläufen. Oder über seinen „Work in Progress“, an dem er Abend für Abend musikalische Revisionen seiner Werke vornimmt, so dass bei gleicher Setlist trotzdem kein Abend dem anderen gleicht. Hätte mir mehr erwartet, warum gerade diese Songs so wichtig sind, um daraus eine (Pseudo-)Biografie abzuleiten.

Stattdessen erzählt er uns zwar wieder interessante Geschichten und schenkt uns waghalsige Gedankensprünge, die mal zwingend, mal abseitig sind. Doch während Dylan die kurze Form gewählt hat, bleiben Marcus‘ abenteuerliche Exkursionen mitunter zu lose verknüpft mit den Dylan-Songs als Forschungsgegenständen und führen manchmal etwas weitschweifig weg von ihnen. Ganz so weit wie der Kritiker Daniel Gewertz auf der Website „the arts fuse“ würde ich dann aber nicht gehen: „An manchen Stellen kann Greil Marcus’ abschweifender Stil wie nervöse Brillanz wirken, an anderen wie eitle Launenhaftigkeit“, schreibt er, um dann aber versöhnlich zu werden: „Was das Buch adelt, ist die Liebe des Kritikers zu seinem zugrunde liegenden Thema: die seelenvolle Suche nach einem wahrhaftigeren Amerika.“

Keine Dylan-Biographie, sondern Gedanken zur amerikanischen Folkmusik

Und im letzteren treffen wir uns dann eben alle. Möglicherweise wäre Marcus besser beraten gewesen, hätte er den übergroßen Bob Dylan-Bezug aus dem Buchtitel genommen. Denn er schreibt keine Biographie über Dylan, sondern äußert frei und assoziativ seine Gedanken über die amerikanische Folkmusik im 20. und 21. Jahrhundert und dabei über die vielleicht wichtigste musikalische Ausdrucksform des „anderen Amerikas“. Und dabei sind die Dylan-Songs mehr verbindende Elemente als eigentliche Betrachtungsgegenstände.

Sehr gut startet das Buch mit der Beschäftigung mit „Blowin‘ In The Wind“. Von der Vorgeschichte mit „No More Auction Block“ über die Geschichte des Songs als musikalischer Beitrag zur Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren bis hin zur pessimistischen gesellschaftspolitischen Conclusio im Angesicht der Ermordung George Floyds und den „Black Lives Matter“-Protesten.

Doch schon im zweiten Kapitel verirrt man sich in Marcus‘ Gedankenläufen. Um welchen Song geht es hier? „The Lonesome Death Of Hattie Caroll“ oder „The Times Are A-Changin‘“? Und was haben „Fleetwood Mac“ und „Rumours“ damit zu tun? Too Much!

Eines der interessantesten Kapitel im Buch behandelt „Desolation Row“. Denn es zeigt die Stärken und Schwächen des Buches wie im Brennglas auf. Sehr gut erzählt Marcus über die „versteckte Geschichte“. Der dreifache Lynchmord von Duluth, Minnesota im Jahre 1920 ist schon zwei Jahre kein öffentliches Thema mehr in der Stadt. Aber hinter vorgehaltener Hand wird erinnert, geraunt, geflüstert. Und Marcus sinniert, inwieweit Abe Zimmerman, Dylans Vater, der acht Jahre alt war, als der Mob die schwarzen Zirkusarbeiter ermordete, seinem Sohn Bob davon erzählt hat.

Es spricht schon einiges dafür, dass in der Familie Zimmerman, die vor den antijüdischen russischen Pogromen 1905 in die USA geflohen waren, diese Morde Thema waren. Denn auch im vorgeblichen Land der Freiheit erlebte man nun rassistischen Terror. Dies wird nicht spurlos an der Familie Zimmerman vorbeigegangen sein. Hier bleibt Marcus überraschend unbestimmt.

Greil Marcus, Foto: Wikimedia Commons

„Jim Jones“ und „Murder Most Foul“ zeigen Dylans Schaffensprozess und seine Stellung in der Folkmusik

Am nächsten kommt das Buch Dylans Schaffensprozess und wird damit stark, wenn Marcus den Song „Jim Jones“ zum Anlass nimmt, um Bob Dylans Wurzeln im Folk und im Greenwich Village zu erzählen. Er nimmt Mike Seeger, Bruder des weitaus berühmteren Pete Seeger und Frontmann der „New Lost City Ramblers“ als Referenzkünstler zu Dylan. Dylan konnte die Folksongs nicht so spielen wie Mike Seeger, er konnte sie besser spielen, weil er nicht nur ihre Tradition respektierte, sondern auch der Tradition etwas Neues, eigenes hinzufügte, schreibt Marcus sinngemäß in diesem Abschnitt des Buches. Und kommt darauf zu sprechen, dass Dylan als er seinen künstlerischen Kompass zu verlieren schien, sich anhand alter Folksongs auf Album und im Studio wieder selbst aus dem Sumpf zog.

Mit Spannung erwartet wurde natürlich das Kapitel über „Murder Most Foul“.  Und es ist tatsächlich der krönende Abschluss auf hohem Niveau, dass Marcus während des Buches nicht immer durchhalten konnte. Wie er hier Dylans eigene Verwobenheit in der Rezeption des Kennedy-Mordes mit dessen verunglückter Tom Paine Award-Rede in Verbindung herausstellt, zeigt, dass Dylan der Kennedy-Mord nie losgelassen hat, so dass er 2020 mitten im Lockdown den 17-minütigen Song „Murder Most Foul“ veröffentlicht hat. Und dieser Song erzählt von Amerika, und dieser Song ist auch gleich zwei Songs in einem. Erzählung über das Kennedy-Attentat und amerikanische Popgeschichte zugleich. Er ist aber auch das Echo der alten topical Folk Songs. Und Dylan ist plötzlich Clarence Ashley oder Sara & Maybelle Carter. Oder Mike Seeger.

In diese Reihe stellt Marcus Bob Dylan. Dylan hatte noch diese alten Folksänger spielen sehen und gesehen was mit ihnen aus der Welt gegangen sei.  Und Greil Marcus stellt die abschließende Frage: Was wird dereinst mit Bob Dylan aus der Welt gehen?

Fazit:  Ein „Must Have“ für jeden Bob Dylan und Folkmusik-Interessierten. Auch wenn es nicht die Stärke und Dichte früherer Arbeiten hat, bleibt Greil Marcus‘ Ansatz die Musik zu erklären weiterhin spannend und unverzichtbar.