Bob Dylans startet seine Europa-Tour bemerkenswert
Blicken wird doch zuerst einmal auf die Setlist der ersten Konzerte in Skandinavien. Denn schon da macht sich Dylan-typischer Humor breit. Die Konzerte beginnen mit „Things have changed“ der klaren Ansage, dass sein früher Klassiker „The Times They Are A Changin'“ schon seine unumstößliche Wahrheit hat, wenn auch anders als gedacht. Denn die Gesellschaft hat die Menschen verändert und nicht umgekehrt.
Und sie enden mit „Long And Wasted Years“! Also alle Jahre sinnlos verschwendet? Für Dylan trifft das vielleicht gerade einmal auf eines der fünf Jahrzehnte seiner Karriere zu, nämlich den 1980ern. Und so spielt er denn auch derzeit konsequent Songs aus den 60ern, den 70ern, den 90ern, den 2000ern und ganz viele seiner neuen Platte. Alleine die genialen Ausnahmen „Blind Willie McTell“ und „What Good Am I?“ finden den Weg aus dem von Ronald Reagan und Michael Jackson geprägten Jahrzehnt.
Kein Künstler dieser Bedeutung würde zudem es wagen, ein Konzert ohne seine größten Hits zu bestreiten und den Fokus auf das Alterswerk zu legen. Normalerweise wird das immer im ersten Teil des Konzerts erledigt, bei Dylan ist es umgekehrt, er reiht wie auf einer Schnur alleine drei Songs seines letzten Albums am Ende des zweiten Teils des Konzerts auf. Kein „Tambourine Man“, kein „Like A Rolling Stone“, kein „Times They Are A Changin'“, kein „Knockin‘ On Heaven’s Door“. Erst bei den Zugaben hat er ein Einsehen. „All Along The Watchtower“ und „Blowin In The Wind“, letzteres in seiner seit einigen Jahren gespielten Gospel-Soul-Version.
Das bemerkenswerteste ist aber, und damit kommen wir wieder zum Beginn, ist die zentrale Bedeutung von „Long And Wasted Years“ im Konzert. Er war zwar einer meiner Favoriten auf „Tempest“, doch in der öffentlichen Wahrnehmung lag er hinter dem Titelsong, der John Lennon-Hommage „Roll On, John“ und „Duquesne Whistle“ klar zurück.
Und doch entfaltet sich hier Dylans Erzählkunst in ganz großer Weise. Wie er schonungslos negativ er ein Leben bilanziert ist ergreifend und demoralisierend zugleich. Liebe gab es in der Beziehung der Protagonisten nur damals ganz kurz am Anfang. Ansonsten eine einzige Folge von materiellen und immateriellen Verlusten. Und dann wacht man eines Tages auf und muss zusammen heulen wegen dieses elenden, verschwendeten Lebens. Grauslig. Dylans Gesangskunst (!) ist auf der Platte schon großartig. In der Bühnenperformance steigert sie sich nochmal in einen dramatischen Abgesang. Und wirkt als perfekter Verfremdungseffekt. Denn dieses kreative und geniale Künstlerleben – so stellen seine faszinierenden Konzerte wieder unter Beweis – war alles andere als „long and wasted“. Wir hoffen, es erfährt noch eine lange Fortsetzung.
Long And Wasted Years, Stockholm 2013: