Archive for Dezember 2017

Vor 50 Jahren: Die Geburt des „Americana“

28. Dezember 2017

Bob Dylan 1967, Foto: Sony Music/ Elliott Landy

„The Basement Tapes“, „John Wesley Harding“ und „Music From Big Pink“ veränderten 1967 und ’68 die Musikgeschichte.

Wenn nun das Jahr wechselt und aus 2017 so langsam 2018 wird, dann lohnt es, sich als Musikfreund an die Zeit vor 50 Jahren zu erinnern. Denn damals wurde Musikgeschichte geschrieben. Denn wenn Ausnahmemusiker zusammenkommen und sich gegenseitig befruchten, dann entsteht sehr oft etwas Neues, so noch nie Dagewesenes. So auch im Zeitraum vom Frühjahr/Sommer 1967 bis zum Sommer 1968 als Bob Dylan und „The Band“, vormals „Levon and The Hawks“, nichts weniger als das „Americana“ erfunden haben.

Dylan findet mit „The Hawks“ eine Tourband
Während 1966 Dylan der junge Folk-Rock-Hipster mit Protestsong-Vergangenheit war, spielten die „Hawks“ vorwiegend Rhythm & Blues und Rock’n’Roll in abseitigen Clubs und Spelunken. Als Dylan dann für seine Welttournee 1966 eine Begleitband suchte, fand er die „Hawks“, ehemals Begleitkapelle des kanadischen Rockers Ronnie Hawkins. Wochenlag ließen sie sich von den Zuschauern für ihren Folk-Rock beschimpfen, dann stieg Drummer Levon Helm entnervt aus. Höhepunkt des Kampfes von Dylan mit seinem Publikum war dann der berühmte „Judas!“-Ruf in der Manchester Free Trade Hall.

Doch die Scharmützel mit seinen Fans, die Knochenmühle des Tournee-Zirkus und die vielen Mittelchen mit den versucht wurde, Kreativität und Schaffenskraft trotz der enormen Belastungen aufrecht zu erhalten, forderten ihren Tribut. Im Sommer 1966 war Dylan physisch und seelisch ein Wrack. Und sein Manager Albert Grossmann hatte schon wieder eine umfangreiche Tour zusammengestellt. Dylans Motorradunfall am 29. Juli 1966 war da die willkommene Gelegenheit, für eine Weile aus diesem Rattenrennen auszusteigen.

„The Basement Tapes“
Gut eineinhalb Jahre trat Dylan nicht mehr in der Öffentlichkeit auf. Es dauerte fast ein Dreivierteljahr bis Dylan wieder Spaß bekam regelmäßig zu musizieren. Aber dann richtig: Vom Frühjahr bis Herbst 1967 verbrachte er jeden Tag viele Stunden mit den „Hawks“ – Levon Helm war jetzt wieder mit von der Partie – und sie spielten alles was sie kannten aus Folk, Country, Blues und Rock’n’Roll. Mehr als hundert Songs schnitten sie mit. Neben der Beschäftigung mit vielen Standards begann Dylan auch wieder Songs zu schreiben. Es entstanden Klassiker wie „You Ain’t Goin‘ Nowhere“, Quinn The Eskimo“ This Wheel’s On Fire“ und natürlich „I Shall Be Released“.

Textlich war für Dylan die surrealistische Songpoesie obsolet. Die Texte waren wieder einfacher zu rezipieren, erzählten Geschichten oder Parabeln, waren weniger bildhaft, aber dafür viel stärker aus amerikanischer Überlieferung – sowohl aus Alltags- wie aus Mythenwelt – gespeist. Da ist kein Shakespeare mehr „in the Alley“ und kein Einstein, kein Ezra Pound und kein Robin Hood. Da treten stattdessen Lastwagenfahrer auf, Trinker und Müßiggänger oder eine fette „Mrs. Henry“. Teils ist die Stimmung ausgelassen wie bei einer Vaudeville-Show, dann wieder bizarr oder pathetisch. Man erzählt sich beim Wäsche aufhängen davon, dass der Vizepräsident durchgedreht sei. Oder vergleicht die Geburt der amerikanischen Nation am 4. Juli mit der Geburt des eigenen Kindes. Dylan und The Band verorten sich zutiefst in Amerika. Indem sie schwarze und weiße Musik spielen, verorten sie sich aber auch ganz im „Americana“, der Musik des Amerikas, das an den Traum vom Land, das allen die Möglichkeit gibt, ihr Glück zu finden, glaubt. Und nicht an ein Amerika der Rassenschranken oder der Konzerne. Die Songs, die bei den Basement Tapes entstanden sind, sind allesamt amerikanische Klassiker, mögen einige auch eher Dylan’sche Nebenwerke sein wie „Odds And Ends“. Lo And Behold“ oder „Million Dollar Bash“.

Veröffentlicht wurden Songs der Basement Tapes zuerst von Dritten. Denn weder Dylan noch „The Band“ planten eine Veröffentlichung der Bänder. Schon im Oktober 1967 wurde ein Demoband mit 14 Aufnahmen zusammengestellt, über den Musikverlag Dwarf Music zum Copyright angemeldet und anderen Musikern als Demos angeboten. Die ersten, die Coversongs aus diesem Material erstellten waren Peter Paul & Mary („Too Much Of Nothing“), Manfred Mann, der aus dem eher spröden „Quinn, The Eskimo“ das schmissige „Mighty Quinn“ machte und damit einen Superhit produzierte, Julie Driscoll, Brian Auger & The Trinity, die „This Wheel’s On Fire“ einspielten, sowie die Dylan-Apologeten „The Byrds“, die nach dem „Folk-Rock“-Urknall “ „Mr. Tambourine Man“, nun mit ihrer Version von „You Ain’t Goin‘ Nowhere“ auch als Mitbegründer des Country-Rock in die Popmusikgeschichte eingingen. Erst 1975 sollten Rudimente der Basement Tapes veröffentlicht werden, 2014 erschienen dann die kompletten Basement Tapes und es wurden unter dem Titel „The New Basement Tapes: Lost On The River“ Songtexte von Dylan aus dieser Zeit von Künstlern wie Rhiannon Giddens und Marcus Mumford unter der Regie von T-Bone Burnett neu vertont.

John Wesley Harding
Dylan, der 1966 noch als Rock-Avantgardist die Rockmusik erwachsen und bedeutungsschwer gemacht hatte, erdete sich gerade ein Jahr später mit den Basement Tapes neu, indem er noch einmal ganz bewusst zurück zu den Wurzeln ging. Als er am Ende aus dem Keller wieder hoch stieg war ein anderer Künstler. Seine folgenden Platten John Wesley Harding und Nashville Skyline dokumentierten seinen Weg zurück zu Country und Folk.

Und doch war sein Comeback-Album „John Wesley Harding“, das am 27. Dezember 1967 erschien, eine andere Platte als es die Musik von den Basement Tapes erwarten ließ. Die Platte war ernster im Ton und spartanischer in der Musik, als die zum Teil sehr süffigen Songs – textlich wie musikalisch – die bei den Basement Sessions entstanden waren. Tauchten Teile der Basement-Songs hinein ins pralle Menschenleben, unterlegt mit Rhythm & Blues und Country, so waren diese Songs oftmals Parabeln mit biblischen Bezügen. Teils zornig („Dear Landlord“), teils als Antwort auf Woody Guthries Tod im Oktober zu verstehen (Drifters Escape), teils resignativ gesellschaftskritisch („All Along The Watchtower“). Die Musik dieses Albums, das nach „Blonde On Blonde“ abermals in Nashville mit Teilen der „Nashville Cats“ eingespielt worden war, bestand aus zurückhaltendem Country-Folk. Aber dennoch wäre Dylan nicht Dylan, würde er nicht einmal aus seinem selbst verordneten Rahmen ausbrechen. „I’ll Be Your Baby Tonight“ ist ein sexy Honky-Tonk-Schieber und einer der Songs, die gerade von Countrymusikern bis heute sehr gerne gecovert wird.

Music From Big Pink

The Band 1967, Foto: Sony Music/ Eliott Landy


War Dylan zusammen mit „Levon & The Hawks“ hinunter in den Keller von „Big Pink“ gestiegen, so kamen die vier Kanadier Robbie Robertson, Richard Manuel, Rick Danko, Garth Hudson sowie der Arkansas-Boy Levon Helm als „The Band“ wieder hinauf. So nannten sie sich nun selbstbewusst, als sie 1968 am 1. Juli 1968 ihr Debütalbum „Music From Big Pink“ vorlegten. Die Platte veränderte die Richtung des Rock: Den damals aktuellen Psychedelic-Klängen setzten sie eine ruhigere, aber umso kraftvollere, durch Country, Blues und Folk geerdete Art der Rockmusik entgegen. An drei Stücken war Bob Dylan als Co-Autor beteiligt: „Tears Of Rage“, „This Wheel’s On Fire“ und „I Shall Be Released“.

Obwohl es kommerziell nicht sehr erfolgreich war, gilt „Music From Big Pink“ neben dem Nachfolgealbum „The Band“ von 1969 (auch als „braunes Album“ analog dem „weißen Album“ der Beatles bekannt) heute nicht nur als bestes Album der Band, sondern auch eines der besten und einflussreichsten Rockmusik-Alben überhaupt.

Leittrack des Albums ist das bis heute ungebrochen faszinierende „The Weight“ – auch mittlerweile ein amerikanischer Klassiker. „Der Song ist pures Americana“, schreibt Peter Viney auf der Website von „The Band“. Und tatsächlich ermöglicht er auf engstem textlichem Raum allerlei amerikanische Assoziationen: Er hat biblische und religiöse Bezüge, er spielt mit Bildern des Kleinstadtlebens im Westen und dem Teufel, der quasi an jeder Ecke lauert. Er lässt Bigotterie genauso erahnen wie Liebe, Verlangen und Gewalt. Der Text ist in Panoptikum des alten, gefährlichen Amerika. Und auch seine Musik ist pures Americana. Sie eint in großartiger Weise Country, Rock, Soul und Gospel-Elemente.

Beim Woody Guthrie Tribute wird „Americana“ öffentlich
Am 20. Januar 1968 treten Bob Dylan & The Band beim großen Woody Guthrie Tribute in New York auf. Ihr erster Auftritt seit anderthalb Jahren. Und erstmals lassen sie die Öffentlichkeit ihre neue gefundene musikalische Form hören. Beim Andenken an die verstorbene US-Folk-Ikone und Dylan-Vorbild Guthrie manifestiert sich die Geburt des neuen Genres. Wie hier Guthries Folksongs „I Aint’t Got No Home In This World Anymore“ oder „Grand Coulee Dam“ mit viel Rhythm & Blues & Soul unterlegt wird, darf als Paradebeispiel für das neue, alte Genregrenzen überschreitende Americana gelten.

„Americana“ ist heute lebendiger denn je
Die Karrieren der Protagonisten verliefen unterschiedlich. Bob Dylan blieb das sich noch mehrmals musikalisch häutende Chamäleon der Rockgeschichte, der bis heute auf den Konzertbühnen der Welt unterwegs ist. „The Band“ spielten 1977 ihr Abschiedskonzert – legendär verfilmt von Martin Scorsese – und lösten sich auf Betreiben vom selbst ernannten Bandleader Robbie Robertson auf. Sie gründeten sich ohne Robertson 1983 neu, dann beging Richard Manuel 1986 Selbstmord. Eine weitere, letzte Comeback-Phase begann 1992 und endete dann 1999 mit dem Tod Rick Dankos. Levon Helm veröffentlichte vor seinem Tod 2012 noch zwei erfolgreiche Solo-Alben. Letzte lebende Band-Mitglieder sind heute Robbie Robertson und Garth Hudson.

Das „Americana“-Genre aber ist heute lebendiger denn je und gerade in den Zeiten von Trump setzt es in der Auseinandersetzung mit dem heutigen Amerika neue Kräfte frei. Selten sind so viele bedeutende Americana-Alben erschienen wie 2017.

Thomas Waldherr hat gerade auf country.de seine persönlichen Americana-TOP 10-Alben vorgestellt: http://www.country.de/2017/12/23/die-americana-top-10-alben-des-jahres-2017/
In der Darmstädter Konzertreihe „Americana im Pädagog“ findet am Samstag, 13. Januar“ ein großes Woody Guthrie Tribute-Konzert statt, bei dem neben anderen auch die Songs zu hören sein werden, die Dylan & The Band beim Konzert 1968 gespielt haben: http://paedagogtheater.de/guthrie/

Bob Dylan kommt erneut nach Deutschland!

16. Dezember 2017

Und schon wieder ist er da. In schöner Regelmäßigkeit findet der Dylan-Konzert-Tross nach Deutschland. Nach seinen 5 Konzerten 2017 kommt er nun für weitere 5 Gigs im April 2018 in die Bundesrepublik
Wenn so mancher im letzten Jahr gedacht haben sollte, das war’s, „Dylan Live“, das kommt nicht mehr, der sieht sich getäuscht. Der Folk-Rock-Altmeister, Nobelpreisträger und Sinatra-Impersonator reist erneut für eine Tour quer durch die deutschen Lande. Waren es im letzten Jahr die Großstädte Hamburg, Düsseldorf, Hannover und Frankfurt (das Konzert in Lingen war ein typisch Dylan’scher Kontrapunkt), so verschlägt es ihn nun eher in die Provinz. Diesmal stehen im April fünf meist mittelgroße Städte auf dem Plan: Neu-Ulm, Leipzig, Krefeld, Bielefeld, Nürnberg und Baden-Baden heißen die Stationen.

So unterschiedlich die Regionen, so divers sind auch die Spielstätten. das Spektrum reicht von modernen Veranstaltungsarenen und Mehrzweckhallen bis hin zum extravaganten Festspielhaus in Baden-Baden. Dabei wissen natürlich die erfahrenen Dylan-Fans, dass besondere Spielorte nicht unbedingt auch die außergewöhnlichsten Konzerte garantieren. Wo den Meister letztendlich die Muse am eindringlichsten küsst, bleibt völlig ungewiss.

Gewiss ist jedoch, dass sich Dylans Shows seit einigen Jahren nun schon auf musikalisch hohem Niveau bewegen. Dafür sorgt sein Arbeitsethos und seine ungebrochene Lust am Live-Auftritt ebenso wie seine großartige Tourband rund um „Bandleader“ Tony Garnier, der die Legende nun schon seit fast dreißig Jahren begleitet, und Ex-Gitarren-Wunderkind Charlie Sexton. Zudem liefert Dylan seit dem Beginn seines Great American Songbook-Projekts seine besten Gesangsleistungen seit Jahren ab.

Was er denn letztendlich für Songs spielen wird, ob er weiter wie in diesem Jahr das Gerüst aus den Sinatra-Platten und „Tempest“ baut, oder ob er plötzlich ein neues Konzertformat entdeckt, davon müssen wir uns letztendlich wieder überraschen lassen.

Nur eines sollte allen Konzertgängern klar sein. Wer Bob Dylan so hören will, wie er vor 40 oder 50 Jahren sich angehört hat, der sollte besser draußen bleiben. Im inoffiziellen Rahmenprogramm vor der Halle kann man sich auch diesmal garantiert wieder mindestens ein Dylan-Double anhören!

Bob Dylan live 2018
12.04.2018, Neu-Ulm, Ratiopharm Arena
18.04.2018, Leipzig, Arena
19.04.2018, Krefeld, Königpalast
21.04.2018, Bielefeld, Seidensticker Halle
22.04.2018, Nürnberg, Frankenhalle
23.04.2018, Baden-Baden, Festspielhaus

Buddy Holly, Leadbelly, Homer

10. Dezember 2017

In seiner Nobelpreis-Vorlesung folgt Bob Dylan legendären Sängern/ Übersetzung von Heinrich Detering soeben erschienen

Ob seine Songs etwas mit Literatur zu tun haben, fragt sich Bob Dylan angesichts der Verleihung des Literatur-Nobelpreises. Und er greift das in seiner mittlerweile bekannten, aber immer wieder aufs Neue überraschenden Art auf. Schon in seiner in seiner Abwesenheit gehaltenen Tischrede. Eine Vorlesung musste er ja halten, um auch wirklich das Preisgeld zu bekommen. Und diese Nobelpreis-Vorlesung wurde zum letzten Akt einer unendlichen Geschichte von „kommt er?, kommt er nicht?, kommt er doch…?“ Erst ging er nicht ans Telefon, dann äußerte er sich freundlich über die Preisverleihung, ließ aber offen, ob er nach Stockholm kommen wolle, dann kam er nicht und ließ sich von Freundin Patti Smith musikalisch und von der US-Botschafterin in Schweden Azita Raji mit der besagten Tischrede vertreten. Und dann reize er die Frist für seine Nobelpreisvorlesung bis aufs letzte aus und schickte kurz vor Ende eine Audioaufnahme mit Klavieruntermalung.

In dieser Nobelpreisvorlesung, die soeben in einer deutschen Ausgabe – kongenial übersetzt einmal mehr von Heinrich Detering – stellt sich Dylan also nochmals die eingangs erwähnte Frage. Und er bringt tatsächlich zusammen, was von einigen bornierten Geistern immer noch nicht verstanden haben: Songs sind der Literatur gleichwertig. Sie sind gesungene Literatur, die aber eine für den Rezipienten weitere Erfahrungsebene hat. Der Gesang und die Performance erschließen den geschriebenen Songtexten weitere Bedeutungsebenen. Daher sind Songtexte ohne Musik und Gesang auch beschränkt in ihrer Sinnhaftigkeit und Wirkung beim Leser. Aber: Schlechte, banale oder triviale Songtexte werden auch durch besten Gesang und Performance selten besser. Es gibt diese Fälle, aber sie bleiben Ausnahmen.

Ein beträchtlicher Teil von Dylans Texten – es gibt auch bei ihm die Ausnahmen – entfalten durchaus schon auf dem Papier ihre Wirkung. „Desolation Row“ zum Beispiel in seinem bunten Jahrmarktstreiben der surrealen Begegnungen. Andere brauchen die Performance. Die Wirkung von „All Along The Watchtower“, dem Lied über die scheinbare Ausweglosigkeit aus der verwalten Welt des Spätkapitalismus wird noch verstärkt durch die Performance. Sei es die von Dylan oder von Hendrix.

Dylan referiert in seiner Vorlesung gekonnt, wie die Ebene von Literatur und Songs bei ihm verbunden sind. Und er bemüht seine frühen Vorbilder Buddy Holl und Leadbelly. Erwähnt daneben Jean Ritchie die New Lost City Ramblers oder Sonny Terry and Brownie McGhee, interessanterweise aber nicht seinen stärksten Einfluss Woody Guthrie. Jedenfalls erzählt er sehr anschaulich, dass er das gesamte „Alphabet“ des Folksongs – seine Wurzeln, seine Sprache und Bilder und die Entstehungslinien der wichtigsten Songs recht schnell von Grund auf beherrschte.

Aber was er neu einbrachte in die Welt des Folksongs, das benennt er eindeutig und bestätigt damit einmal mehr seine Apologeten. Er fügte dem aus der ruralen Welt stammenden Folksong – wir reden hier ja nicht vom Kunstlied – eindeutig Bilder, Motive und Erzählweisen aus der Welt der Literatur hinzu. Und gibt uns auch gleich seine wichtigsten Quellen mit auf den Weg.

Er erzählt mit großer Lässigkeit über Moby Dick, der Geschichte vom Kampf von Mann gegen Wal, vom sich verlieren des Menschen im Jagdeifer und zu welchen Katastrophen das führt. Er erzählt sehr persönlich von der Wirkung von „Im Westen nichts Neues“ auf ihn. Wer das Buch gelesen hat, kann Kriege nicht gut finden. Und stellt ganz cool den Hillbilly-Sänger Charlie Poole neben Erich Maria Remarque. Und er referiert natürlich über die Odyssee, dem Epos von Homer, diesem so grundlegenden Werk übers nie ankommen und immer wieder geprüft werden. Homer ist natürlich absolut passend zum Thema Literatur Nobelpreis für den Folk-Rock-Sänger Dylan. Zum einen, weil Homers Epen ursprünglich mündlich aus dem Gedächtnis vorgetragen wurden und Homer ja auch gerne als blinder Sänger mit der Lyra (Blind Willie McTell?!) dargestellt wird (soweit die Parallelen zum Gesangsvortrag) – zum anderen weil die Odyssee immer wieder auch in Dylans Songdichtungen eine Rolle spielt. Übersetzer Detering hat ja jüngst erst in großartiger Manier den Zusammenhang von Dylans Song „Roll On John“ über John Lennon mit der Odyssee herausgearbeitet.

Zu guter Letzt kommt dann Dylan in seiner kurzweiligen Betrachtung über Songs und Literatur dann doch dahin, dass Songs und Literatur etwas anderes sind und Songtexte gehört werden müssen. Und kommt am Ende wieder zu Homer zurück: „Singe in mir, Oh Muse, und durch mich erzähl die Geschichte.“

Aber auch diese Nobelpreis-Vorlesung wird nicht die bornierten Großkritiker von der Legitimität der Preisvergabe an Dylan überzeugen. Schließlich begann auch hier wieder der typische Anti-Dylan-Reflex zu greifen. Es mag ja sein, dass Dylan Internetquellen benutzte um die von ihm genannten literarischen Werke zu zitieren oder mit Inhaltsangaben zusammenzufassen. Aber wie er dies wieder zusammengesetzt hat, wie er was zusammenbrachte, und welche Schlüsse er daraus zog, das ist wieder eine ganz klare eigenständige künstlerische Leistung. Dylan gehorcht dem Entstehungsprinzip des Folksongs. Immer und überall. Das muss aber auch kein Literatur-Großkritiker verstehen. Denn: „Something is happening here, but you don’t know what it is, do you Mr. Scheck?“

Dass Dylan im letzten Jahr nicht nach Stockholm zu Preisverleihung und steifem Festbankett gereist ist – die Atmosphäre brachte sogar die alte Fahrensfrau Patti Smith ins Schlingern – vermerkt man zudem aufgrund der schlechten Nachrichten rund um die Akademie der letzten Wochen noch stärker als positive Entscheidung Dylans.

Bob Dylan, Die Nobelpreis-Vorlesung, übersetzt von Heinrich Detering, Hoffmann & Campe, 14 Euro