Archive for Juli 2022

Diebstahl aus Liebe

29. Juli 2022

Ohne „kulturelle Aneignung“ kein Fortschritt und keine Popmusik. Und auch kein Bob Dylan. Ein Plädoyer für eine differenzierte Betrachtung

Auch sie begeisterten sich für die afroamerikanische Musik: Joan Baez und Bob Dylan beim „March On Washington“ 1963, Copyright: Wikimedia Commons

Der wegen angeblicher negativer kultureller Aneignung abgebrochene Auftritt der Schweizer Reggae-Band „Lauwarm“ ist einer der viralen Aufreger der Woche. Ist das „die Unterdrückung verlängernde Besitzergreifung fremder Kultur“ durch den weißen Mann? Dürfen weiße Musiker keinen Reggae spielen und Rasta-Locken tragen?

Klar, dass das wieder die altbekannten Wutbürger auf die Palme bringt. „Man darf ja gar nix mehr. Scheiß Political Correctness. Freiheit!“ usw. Und auf der anderen Seite drängen diejenigen nach vorne, die sagen, wer sich rassistisch beleidigt fühlt, ist im Recht, und dann muss die ihn empörende Handlung/Aussage auch rassistisch gewesen sein. Und wieder andere Zeitgenossen der Generation, die mit Reggae, Rock und Blues aufgewachsen ist, sind einfach nur ratlos und genervt, ob solcher aktuellen Konflikte.

Abgesehen davon, dass reine Subjektivierung von Problemen noch nie etwas gebracht hat, sind wir hier bei der Band „Lauwarm“ genau wieder beim Problem der Identitätsdebatten. Den Schweizer Musikern gefällt scheinbar die Reggae-Kultur so sehr, dass sie diese auch als Weiße zumindest musikalisch und im Outfit übernehmen.

In Kostüme schlüpfen

Nachahmung, Übernahme von Kleidung, Haltung und Verhalten anderer ist eine wichtige Kulturtechnik. Die spielt in Bildung und Erziehung und Schauspiel eine Rolle, denn durch Nachahmung lernt der Mensch, probiert sich aus und lernt Identitäten kennen. Wenn Kinder Cowboy und Indianer spielen, dann sind die Kostüme nicht das schlimme, sondern die Geschichten, die dabei gespielt werden. Wenn also nur das böse Klischee der einfältigen und/oder gefährlichen Rothaut und des wackeren und tapferen Cowboys gespielt würden, wäre das grausam. Aber welches Kind, das Anerkennung sucht, schlüpft freiwillig in die Rolle des Prügelknaben und Bösewichts? Als ich Anfang der 1970er Jahre in der Schule zur Fastnacht als Indianer ging, da orientierte ich mich an den guten Vorbildern der edlen Indianer, dem Comic-Held Silberpfeil und natürlich an unserem liebsten deutschen Winnetou und referierte wie selbstverständlich meine angebliche Stammesherkunft. Unsere Grundschullehrerin, der ich viel zu verdanken habe, griff dies sehr gut auf und wies auch hier ganz selbstverständlich darauf hin, dass alle Menschen gleich sind. Von ihr lernten ihr Toleranz und Demokratie. Und wir lernten aus Comics und Büchern das Interesse an den Indianern. Bis heute sind in Massen abgeschossene Indianer in Filmen für mich schwer erträglich. Gerade weil ich in ihr Kostüm schlüpfte?

Das alles ist nicht zu verwechseln mit „Blackfacing“, das dazu diente schwarze Menschen zu verspotten und zu verhöhnen. Diese Technik ist zurecht ausgestorben und es gibt an Theatern oder Oper gar keinen Grund schwarze Rollen mit weißen Schaupieler:innen oder Sänger:innen zu besetzen. Wer das immer noch macht, hat den Schlag nicht gehört.

Bot afroamerikanischen Musiker:innen eine Bühne: Das Newport Folk Festival 1963, Copyright: Vanguard Records

Eine Bühne für afroamerikanische Musiker

Zeitsprung: Anfang der 1960er war der Höhepunkt des Folk Revivals. Die junge, weiße urbane Studentengeneration entdeckte die kulturelle Ausdrucksform der armen afroamerikanischen Südstaatler für sich. Sie sah sich selber unverstanden und fremd in einer Welt von Konsumismus, Konformismus und Kriegen und hörte da eine Musik, die ebenfalls vom Leid erzählte. Sie eignete sie sich an und gleichzeitig brachte sie die schwarzen Bluesmusikerinnen und -musiker wieder oder auch erstmals in die Öffentlichkeit. Aus der Musik einer Community wurde erst eine schichtenübergreifende und später eine globale Musikkultur. Die Rolling Stones, Alexis Korner und Eric Burdon entdeckten Rythm & Blues für sich. Doch neben ihnen hatten jetzt auch Muddy Waters, Howlin Wolf oder Sister Rosetta Tharpe die Möglichkeit eine breite Öffentlichkeit für ihre Musik zu finden. Horst Lippmann und Fritz Rau brachten die schwarzen Künstler:innen nach Europa und die fühlten sich dort wohler als in den US-Südstaaten.

Auch Bob Dylan begeisterte sich früh für die afroamerikanische Musik. Er hörte Little Richard und Chuck Berry und besuchte den einzigen schwarzen Radio-DJ der Gegend voller Ehrfurcht. Später brachte ihn die schwarze Sängerin Odetta zur Folkmusik. Und dort in der Folkszene ging er ganz selbstverständlich mit den schwarzen Kolleginnen und Kollegen um. Von Harry Belafonte bis Mavis Staples. Er spielte und schrieb Bluessongs und Protestsongs. Er setzte Emmett Till, Medgar Evers, Hattie Caroll, George Jackson, Rubin „Hurricane“ Carter – allesamt Opfer des rassistischen Amerikas – Songdenkmäler. Kulturelle Appropriation? Sicher nicht. Eher Diebstahl aus Liebe. Was ohnehin das Wesen des Folk wie jeder populären Musik ist. Und Bob Dylan stand und steht an der Seite der Schwarzen.

Vermischung trotz Jim Crow

Wenn die frühen Countrystars wie A.P. Carter, Jimmie Rodgers, Bill Monroe oder Hank Williams in den 1930er und 1940er Jahren ihre auch kommerziell erfolgreiche Musik spielten, so war das ohne die direkten oder mittelbaren Einflüsse afroamerikanischer Musiker gar nicht denkbar. Von ihnen lernten sie fast alles. Doch diese Generation von weißen Südstaatlern war noch gefangen im Jim Crow-System. Als der frühe afroamerikanische Countrystar DeFord Bailey starb, da kam auch Bill Monroe zur Beerdigung. Den rassistisch motivierten Rausschmiss von Bailey aus der Grand Ole Opry verhinderten er und seine weißen Kollegen aber auch nicht. Ihre Karrieren gründeten sich objektiv gesehen auf der Besitzaneignung afroamerikanischer musikalischer Stile und Fertigkeiten ohne eine wirklich entsprechende Gegenleistung für die weiterhin einer repressiven weißen Gesellschaft unterworfenen schwarzen Musiker. Auch wenn die weißen Musiker subjektiv gesehen oftmals mit diesen befreundet waren. Schwierige Zeiten und es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Trotzdem ist diese Musik absolut hörenswert und hat eine Daseinsberechtigung.

Ausbeutung durch die Discomaschine

Denke ich an kulturelle Appropriation, also repressive, besitzergreifende kulturelle Ausbeutung, dann denke ich an Boney M. Die 1970er Disco-Pop-Gruppe wurde von dem weißen deutschen Musikproduzenten Frank Farian so zusammengestellt, dass sie alle Klischeevorstellungen von Weißen über Schwarze erfüllte. Drei junge, attraktive dunkelhäutige Frauen umgarnen einen schwarzen, potenten Macker. Dabei wird unverhohlen karibisches, westafrikanisches oder afroamerikanisches Liedgut in Farians Disco-Maschine so verwurstet, dass scheinbar internationale deutsche Popmusik entsteht. „Daddy Cool“, „Ma Baker“ oder „Rivers Of Babylon“ waren nicht der Ausdruck selbstbewusster schwarzer Erzählungen, sondern die von Farian so zusammengedrechselten Versatzstücke schwarzer Überlieferung, dass uns die Schwarzen als Puffmütter, umtriebige Gauner, lustige Gesellen oder arme Hascherl nahegebracht wurden. Farian nahm für den schönen Schein und für die Abhängigkeiten der Künstler ihm gegenüber dabei in Kauf, dass nur wenige wirklich singen konnten und ihre Gesangsparts von anderen eingesungen wurden. Er verdiente prächtig, die Künstler:innen mäßig dabei.

Absichten und Umstände von kultureller Aneignung

Es ist also nicht die Verwendung von Kostümen, Kultur und Musik per se das Problem von kultureller Appropriation, sondern Absicht und Umstände. Wenn auf Folk- und Bluesfestivals weiße wie schwarze Musiker:innen ganz selbstverständlich miteinander musizieren, Weiße Bluesmusik spielen und Schwarze Countrymusik, dann steht das Verbindende von Musik im Mittelpunkt. Denn über die Grenzen der repressiven Jim Crow-Gesellschaft hinweg mischten sich Musikstile und Genres. So entstand große Popmusik. Wenn aber aus kommerziellen Gründen afroamerikanische Ausdrucksformen in für weißes Empfinden gängig gemachten Formen und Erzählungen präsentiert werden, dass ist das in der Tat eine verwerfliche Form von Besitzaneignung, Ausbeutung und Rassismus.

Vereint in der Liebe zum Blues: Taj Mahal und Ry Cooder, Copyright: Nonesuch Records

Es gibt aber auch die Grautöne. Ich habe hier vor kurzem über den neuen Elvis-Film berichtet. Er rückt die afroamerikanischen Vorbilder und Einflüsse von Elvis wie Big Mama Thornton, Arthur Crudup oder B.B. King stärker in den Fokus. Selbstbewusste und meinungsstarke schwarze Künstler:innen wie Yola oder Gary Clark Jr. haben deswegen aus Überzeugung mitgemacht. Elvis ging ganz selbstverständlich mit den Schwarzen um, begeisterte sich für ihre Musik. Und trotzdem: Die von Colonel Parker aufgebaute Geldmaschine Presley war auch eine Form der Besitzaneignung und in Presleys Hofstaat waren nur weiße Menschen zu sehen. Und gleichzeitig arbeitete er mit schwarzen Musiker:innen auf der Bühne zusammen. Elvis Presley – ein Leben voller Widersprüche. Ein Förderer schwarzer Musik und ein Nutznießer gleichermaßen.

Fazit

Merke: Das Thema „Kulturelle Aneignung und die Ereignisse um „Lauwarm“ taugen nicht für pseudo-kulturelle Grabenkriege. Sie sollten aber der Auftakt für eine differenzierte und dialogische Betrachtung des Phänomens sein, dass Menschen sich für fremde Kulturen begeistern und in Kostüme schlüpfen und sich fremde musikalische Ausdrucksformen aneignen. Wie sollen Menschen zueinander finden, wenn sie nicht auch mal in andere Rollen schlüpfen? Wenn dabei jemand übers Ziel hinausschießt, dann sollte man lieber miteinander reden als verbieten. Das Einende sollte immer im Mittelpunkt stehen.

So richtig und wichtig Anti-Rassismus ist, er darf aber nicht zu einer Symbol-Politik werden, die die wirklichen rassistischen Verhältnisse und die daraus abgeleiteten Macht- und Wirtschaftsverhältnisse ausblendet und unangetastet lässt. Es ist halt leider schwieriger gegen kapitalistische und rassistische Ausbeutungsverhältnisse im hiesigen Niedriglohnsektor und in der Dritten Welt vorzugehen, als eine weiße Reggae-Band von der Bühne zu verweisen. Es macht aber sicher mehr Sinn, oder?

Bob Dylan wieder in Deutschland

15. Juli 2022

Sechs Konzerte im Oktober

Copyright: Live Nation Deutschland

In den letzten beiden Jahren hatten wir doch erhebliche Zweifel, ob uns der gute Bob nochmal hier in Deutschland besucht. Die Pandemie hätte zum Tour-Ruhestand führen können. Doch hätte, hätte – Fahrradkette! Bob Dylan ist seit Herbst letzten Jahres auf seiner „Rough And Rowdy Ways World Tour 2021 – 2024 und kommt nun in diesem Rahmen erstmals wieder nach Europa und spielt sechs Konzerte in Deutschland: Flensburg (2.10.), Magdeburg (3.10.), dreimal Berlin (5./6./7.10.) und Krefeld (9.10.).

Da Dylan in der Regel ja ständig auf Tour ist, gibt es im Gegensatz zu anderen Acts keinen großen Vorlauf. Hier nur knapp zweieinhalb Monate. D.h. auch die Organisation der Tour wird zeitnah abgearbeitet. Und das hat in Deutschland zu diesem Tourverlauf geführt. Berlin war sicher keine kurzfristige Entscheidung. Aber dass er statt in Hamburg nun in Flensburg, statt Hannover nun in Magdeburg und statt Düsseldorf/Köln in Krefeld spielt, dürfte auch damit zu tun haben, dass die Event- und Musikbranche in Deutschland außer im United Kingdom in Europa am größten ist und die Hallen wegen der vielen Corona-Verschiebungen schon ziemlich ausgebucht sind.

In Flensburg sahen wir ihn 2014 im Konzert, danach folgte in der Halle die Live-Übertragung des 7:1-Jahrhundertspiels Deutschland gegen Brasilien. In Berlin waren wir 2013 bei seinem Gastspiel im Tempodrom und sahen zwei von drei Konzerten und vor uns stand Wim Wenders. Nun also die „Verti Music Hall“. Die nach einem Autoversicherer benannte Halle befindet sich ganz passend direkt neben der Mercedes Benz-Arena. Sie ist kleiner als diese und fast 4.500 Zuschauer unbestuhlt und 2.250 bestuhlt. Jetzt fehlt daneben eigentlich noch der Sixt-Club mit einer Kapazität mit rund 1000 Personen unbestuhlt und 600 bestuhlt.

Bei allen Konzerten ist die Smartphone-Nutzung untersagt, es wird „Yondr Bags“ geben, in denen das Gerät während des Konzerts eingeschlossen ist. Das hat einen störungsfreien Konzertgenuss – mich nerven die Dauerfilmer bei Konzerten zusehends – aber auch so gut wie keine Konzert-Schnappschüsse und -Bewegtbilder zur Folge. Die Ereignisse bei der letzten Tour 2019 mit dem Foto-Eklat in Wien haben ihre Nachwehen.

Es ist – sollte sie nicht noch erweitert werden – eine recht kompakte Tour. Vom 25. September bis 31. Oktober, 25 Termine. Kein Österreich, keine Schweiz, kein Italien, kein Spanien – all das könnte dann nächstes Jahr wieder Ziel sein. Dylan tourt auch mit 81 Jahren unerschütterlich. Aber die Termine innerhalb eines Tour-Zeitraums werden weniger und er bleibt auch gerne mal für mehrere Konzerte an einem Ort.

Musikalisch können wir uns auf ein in Hinsicht auf die US-Konzerte wenig verändertes Programm freuen und die deutschen Live-Premieren der RARWs-Songs miterleben. Die Konzerte in den USA müssen wahrhaft majestätisch gewesen sein, Dylan weiterhin großartig bei Stimme, sitzt bis auf wenige Ausnahmen am Piano, dass aber nicht mehr am Rande, sondern mittendrin steht, so dass Dylan frontal zu sehen ist. Zudem ist er gut aufgelegt und hat zu jeder Stadt, in der er spielt immer auch einen passenden Spruch parat. Mal schauen, was ihm zu Krefeld einfällt.

Das alles muss man einfach nochmal gesehen und gehört haben. Die letzten beiden Jahre ohne Dylan-Live waren zu lang. Welcome Back, Mr. Bob Dylan!

Die schwarzen Wurzeln des „King Of Rock’n‘Roll“

1. Juli 2022

Baz Luhrmanns Film „Elvis“ ist nicht nur ein rasanter Ritt durch Presleys Leben, der in opulenten Bildern schwelgt, er nimmt auch die afroamerikanischen Wurzeln dessen Werkes so ernst wie kein anderer Film vorher.

Copyright: Warner Bros. Pictures

Wenn selbstbewusste, gesellschaftskritische afroamerikanische Roots-Musiker wie Gary Clark Jr. und Yola im neuen Elvis-Biopic mitspielen, dann tun sie das, weil sie die Rolle der afroamerikanischen Musiker für die Entstehung des Rock’n’Rolls und die Karriere dessen Königs, Elvis Presley, in diesem Film endlich hinreichend gewürdigt sehen. Und tatsächlich: Selten wurden so klar diese Voraussetzungen für die Entstehung des Musikers Elvis Presley gezeigt wie hier.

Zwischen Juke Joint und Zeltgottesdienst

Nachdem sein Vater ins Gefängnis kommt, ist die Familie finanziell notleidend und gezwungen, als weiße Familie in eine schwarze Gegend zu ziehen. Auf die andere Seite der Gleise sozusagen. Und hier im Schwarzen-Viertel lernt der kleine Elvis Blues und Gospel kennen. Feiner Kniff des Regisseurs, die Nähe von Blues und Gospel bildlich durch die räumliche Nähe von Juke Joint und Zeltgottesdienst darzustellen. Und beides fasziniert Elvis. Die laszive, körperlich befreiende Kraft des Blues (hier singt Gary Clark Jr. als Arthur Crudup) und die spirituelle Extase im Gospel-Gottesdienst. Wenn dort auch noch „I’ll Fly Away“ gesungen wird, das ja auch von den Weißen als Country-Gospel gesungen wird, dann wird endgültig klar, wie durch die Vermischung von weißen und schwarzen musikalischen Traditionen der Rock’n’Roll geboren wurde. Und nebenbei wird klar, dass Erweckungsgottesdienste und religiöse Extase der Südstaatenkirchen, den Baptisten und den Pfingstlern, ebenfalls Wurzeln des Rock’n’Roll sind.

„Musikalischer Direktor“ des Films ist Dave Cobb, Produzenten-Wunderkind aus Nashville (Chris Stapleton, Brandi Carlile, Jason Isbell), der hier absolut gute Arbeit geleistet hat. Zu den faszinierendsten Szenen des Films gehören Elvis‘ Eintauchen in die afroamerikanische Kultur in der Beale Street. Hier singen Big Mama Thornton, Sister Rosetta Tharpe und Little Richard und B.B. King ist für Elvis eine Art Freund und Lotse durch diese Welt. Der Rock’n’Roll kam aus dem Rythm & Blues und der war afroamerikanisch und auch weiblich. Insofern ist dieser Film starke Musikgeschichtsschreibung.

Der „Einseifer“

Nicht so gut kommt im Film die Welt der Countrymusik weg. Hank Snow wird als bornierter, weißer Südstaatler dargestellt, während sein Sohn Jimmie Rodgers (!) Snow schnell merkt, welch musikalische Revolution sich da mit Elvis ankündigt. Der merkt, dass da auch Country-Wurzeln drin sind, während Vater Snow das trennende, die Farben der Akteure, betont. Im richtigen Leben wurde übrigens Sohn Snow nach einer kurzen Musikkarriere evangelikaler Prediger. Dass aber auch Afroamerikaner Countrymusik mögen und Elvis immer wieder auch Countrysongs spielte, kommt im Film leider nicht vor, schmälert aber die wichtige Musikgeschichtsschreibung des Streifens nicht.

Die zentrale Rolle des Erzählers nimmt im Film Elvis‘ Manager Colonel Tom Parker alias Andreas Cornelius van Kuijk ein. Er ist ein schmieriger Geschäftemacher, der vom „Einseifer“ auf dem Jahrmarkt zum Countrymusikmanager wird und erst Hank Snow managt und ihn dann zugunsten von Elvis fallenlässt. Er merkt sofort, welche monetären Chancen ein weißer Junge bietet, der die schwarze Musik für ein großes, weißes Publikum marktförmig macht. Dass dies auch zur Folge hat, dass die weißen Kids bei Elvis‘ Musik die Körperlichkeit und die sexuelle Extase für sich entdecken und damit die reaktionäre Obrigkeit der Südstaaten auf den Plan gerufen wird, kann dem einst illegal eingewanderten Holländer nicht gefallen. Seine Existenz steht auf dem Spiel. Also nimmt er Elvis aus dem Spiel und schickt ihn zum Militär nach Deutschland.

Das Establishment schlägt zurück

Was dieser Film ebenfalls deutlich macht, ist dass das was heute so selbstverständlich als Mainstream und Konsens angesehen wird, nämlich der Rock’n’Roll, in den 1950er Jahren auf erbitterten Widerstand des Establishments traf. Rassismus, Prüderie und Menschenfeindlichkeit führten dazu, dass die erste Rock’n’Roll-Generation abdanken musste. Elvis ging zur Army, Chuck Berry und Jerry Lee Lewis wurden wegen Unzucht mit Minderjährigen belangt. Daran gibt es natürlich nichts zu beschönigen. Allerdings muss man auch davon ausgehen, dass FBI und weiße Sheriffs den Rock’n’Rollern systematisch auf den Fersen gewesen waren.

Ganz wichtig für alle, die hierzulande mit amerikanischer Kultur aufgewachsen sind: Rock’n’Roll, Blues und Jazz sind hier immer als Synonyme für amerikanische Kultur gesehen worden. Das idealtypische Amerika-Bild eines vielfältigen „Melting Pots“, dem auch ein Bob Dylan in seiner Kunst folgt, entsprach – wenn überhaupt – nur phasenweise den wirklichen Verhältnissen in den USA. Was ab den 1980er Jahren folgte, war eine Symbiose von reaktionären, angelsächsischen, rassistischen Republikanern mit evangelikalen Eiferern seit der Präsidentschaft Ronald Reagans und eine Veränderung der Grand Old Party von der Honoratiorenpartei in eine semi-faschistische Partei wildgewordener weißer Wutbürger unter der Führung von Donald Trump. Diese Leute sind Feinde dieses vielfältigen Amerikas, das Blues, Jazz und Rock’n’Roll hervorgebracht hat.

Leben und Karriere nie selbst im Griff gehabt

Doch zurück zu Elvis. Der spielte nach seinem Militärdienst in seichten Filmen, während erst der Limonaden-Rock die Musik verwässerte, dann das Folk Revival, Bob Dylan und die Beatles ihn alt aussehen ließen. 1968 war das letzte Mal, dass Presley aus den Fängen Parkers ausbrechen wollte. Doch es sollte nur beim Zucken eines erfolgreichen TV-Specials bleiben, das Parker am Ende auch noch für sich reklamierte.

Presley war ein großartiger Musiker, aber hatte weder sein Leben noch seine Karriere wirklich selbst im Griff. Ihm fehlten die intellektuellen Möglichkeiten und die charakterliche Stärke. Sein Vater war schwach, seine Mutter dominant. Er war ein Muttersöhnchen, der von seiner Mutter leider die Disposition für Suchtprobleme geerbt hatte. Sie war alkoholkrank, Colonel Parker, eine Art Vaterfigur für ihn, trieb ihn in die Medikamentenabhängigkeit.

All diese Facetten eines tragischen Künstlerlebens spiegelt Luhrmanns Film wieder. Ein Biopic, das zum Besten gehört, das es in diesem Genre gibt.

Prädikat: Sehenswert!