Bob Dylans Phase als Sänger von tagespolitischen Protestsongs endete bereits 1964. In der Folge blieb er gesellschaftspolitisch keineswegs harmlos, schließlich arbeitete er sich auch weiterhin an Autoritäten und Ausbeutung („Maggies Farm“ 1965) und dem Leben jenseits der normierten Gesellschaft („Subterranean Homesick Blues“ 1965) ab, oder fragte gar adornitisch nach einem Ausweg aus Kapitalismus und verwalteter Welt („All Along The Watchtower“ 1968).
Unterschätzt und unverstanden in breiten Teilen seines Publikums, den früheren Protestgenerationen, die ab den 1980er Jahren als Träger der neuen sozialen Bewegungen so langsam aber sicher ihren Frieden mit dem neoliberalen US-Kapitalismus gemacht hatten, und dann zum liberalen Establishment wurden, ist bis heute seine immer wieder kehrende Kritik am globalen Kapitalismus sowie seine Erinnerung und Mahnung an die Lebensverhältnisse der amerikanischen Arbeiterklasse im heutigen Rust Belt und dem Fly Over-Country des Mittleren Westens und Südens.
„The Country I Come From Is Called The Midwest“
Dylan stammt nicht von den liberalen Küsten, sondern ist im Mittleren Westen, in der Iron Range Minnesotas, groß geworden. Einem Landstrich, der vom Eisenerzabbau unter Tage lebt. Der junge Robert Zimmerman gehört zwar als Abkömmling einer jüdischen Mittelstandsfamilie sozial und kulturell nicht der dortigen Mehrheit aus Nachfahren von skandinavischen, tschechischen oder katholisch-polnischen Einwanderern an. Aber Mitgliedern seiner Familie gehörten ein Elekro-Fachgeschäft und das örtliche Kino in Hibbing. Sie wussten, wenn es den Bergarbeitern gut geht, dann geht es auch ihnen gut. Da er noch dazu als doppelter Außenseiter sich in der falschen Familie fühlte, und mit Country- und Rock’n’Roll sich für die Musik des armen ländlichen Südens begeisterte, baute Robert Zimmerman schon früh eine Empathie für die einfachen Menschen auf, die ja schließlich geradewegs zur Begeisterung für Woody Guthrie und dessen Lebensstil als Hobo führte.
„The Ballad Of Hollis Brown“ (1963)
Dylan schrieb mit „Blowin‘ In The Wind“, „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ sowie „The Lonesome Death Of Hattie Caroll“ Klassiker der US-amerikanischen Anti-Kriegs- und Bürgerrechtsbewegung. Doch daneben steht ein Song, der sich mit einer anderen Variante der amerikanischen Widersprüche beschäftigt. „The Ballad Of Hollis Brown“ erzählt die Geschichte einer armen Farmerfamilie aus South Dakota. Aus Armut und Verzweiflung löscht der Vater die gesamte Familie mit einem Gewehr aus. Ein Song, geschrieben zwischen „New Deal“ und „Great Society“, erzählt eigentlich eine Geschichte aus der großen Depression. Doch sie ist zeitlos wie Greil Marcus in seinem kleinen, feinen Büchlein „Three Songs/Three Singers/Three Nations“ feststellt. Und angesichts von Armut, Elend und Drogentragödie des Mittelwestens heutzutage aktueller denn je.
„The Farm Aid-Speech“ (1985)
Dylan hat diesen Song auch bei einem denkwürdigen und umstrittenen Auftritt 1985 gespielt. Denn als er am 13. Juli 1985 mit Keith Richards und Ron Wood beim Live Aid-Konzert auftrat, da legte er nicht nur einen seiner desaströsesten Live-Gigs seiner Karriere hin, sondern verärgerte auch viele und insbesondere Chef-Organisator Bob Geldof mit seiner Ansage, nachdem er „The Ballad Of Hollis Brown“ gespielt hatte. Dylan sagte: „I hope that some of the money that’s raised for the people in Africa, maybe they could just take a little bit of it, maybe … one or two million … to pay the mortgages on some of the farms.“ Geldof nannte diese Ansage „Krass, dumm und nationalistisch“ und nahm damit schon die spätere Verachtung und Ignoranz der Liberalen für die Menschen des amerikanischen Heartlands vorweg. Doch Willie Nelson, Neil Young und John Mellencamp nutzten die Steilvorlage Dylans für den Farmer-Charity-Event „Farm Aid“, bei dessen Premiere dann auch Bob Dylan auftrat. Sie alle hatten noch die Empathie für die einfachen Menschen und sie spürten, dass der Hunger in der Welt und die Nöte der amerikanischen Farmer dieselben Ursachen in der Macht der Banken und des globalen Kapitalismus haben. 1993 kamen dann Nelson und Dylan mit dem Song „Heartland“ auf das Thema der Not leidenden Farmer zurück.
„Union Sundown“ (1983)
Doch Dylans Engagement für die einfachen arbeitenden Menschen in Amerika, das so gar nicht zu der inhaltlosen Rock-Show passen sollte, die als Geldsammelmaschine agierte, ohne einen Zipfel der politischen Zusammenhänge des globalen Kapitalismus herzustellen, kam nicht von ungefähr. Bereits 1983 auf „Infidels“ dem Album, das seine Rückkehr aus dem christlichen Fundamentalismus in die wirkliche Welt markierte, legte er in „Union Sundown“ eine musikalische Standortbestimmung des US-Kapitalismus zwischen Globalisierung und Niedergang der Gewerkschaften vor. Zwar kann man auch Anwandlungen von Protektionismus herauslesen, aber gleichzeitig weiß er auch um die Lage der Menschen, die in den Billiglohnländern mit den neuen Jobs ums Überleben kämpfen: „All the furniture, it says ‚Made in Brazil‘, Where a woman, she slaved for sure, Bringin’ home thirty cents a day to a family of twelve, You know, that’s a lot of money to her“, singt er in Union Sundown.
Und genau in dieser globalen Empathie über Ländergrenzen hinweg, unterscheidet er sich von reaktionären und nationalistischen Countrysängern wie den „Trump-Barden“ Lee Greenwood und Toby Keith. Denn Dylan hat das Wesen des internationalen Kapitalismus in seiner oligarchischen und antidemokratischen Ausprägung verstanden. Mehr als dreißig Jahre vor dem amerikanischen politischen Erdbeben rund um Donald Trump schrieb er in „Union Sundown“ über den Niedergang der Arbeiterklasse und der Gewerkschaften in den USA und sezierte fein die politische Realität: „Democracy don’t rule the world…This world is rules by violence“ und „Was made in the USA sure was a good idea, til greed got in the way.“
„Workingman’s Blues #2“
Mehr als 20 Jahre später nimmt Dylan wieder zur Situation des amerikanischen Arbeiterklasse Stellung. Und zwar in seinem „Workingmans Blues #2“ vom Album „Modern Times aus dem Jahre 2006. In direkter Anspielung auf Merle Haggards Countrysong „Workingmans Blues“ erzählt er eine ganz andere Geschichte als der Countrysänger in den 60er Jahren. Konnte Haggards Workingman noch stolz darauf sein, arbeiten zu können und keine Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, bekommt Dylans Protagonist angesichts von Globalisierung und Konkurrenzdruck keine Arbeit mehr bzw. wenn, dann zu Dumping-Löhnen, von denen er nicht leben kann. Er lebt in tiefer Armut. Hier zeigt sich, dass bei Dylan die konkrete Zeit, in der die Songs spielen völlig nebensächlich wird: „Time Out Of Mind“, wie seine Platte 1997 hieß. Denn die Armut, die da geschildert wird, ist mit modernem ökonomischem Vokabular begründet, aber mit uralten Bluespoesie aus der Zeit der großen Depression beschrieben. Gleichzeitig träumt sich der Protagonist aus seiner Ausweglosigkeit in eine Art romantischer Wild West-Szenerie und in Seefahrer-Phantasien. Die Worte letzterer Phantasie sind nichts geringerem als Ovids Werken „Tristia“ und „Epistulae ex Ponto“ entlehnt. Dylan entlehnt sich die Werke des klassischen Altertums, die ja zum sinnstiftenden Bildungskanon des Bürgertums gehören, um die Armut zu beschreiben, die die bürgerliche Gesellschaft kraft ihrer Wirtschaftsweise weltweit schafft.
Am Ende wird dieser „Workingman“ tot sein. Schaurig, aber unaufhaltsam. Und Dylans Song wird zu einer Totenklage eines Sterbenden, in der sich Blues und Ovid, Karl Marx und Country treffen. Dylans Collagentechnik ist verblüffend, belesen und intellektuell ausgereift, aber nie zufällig willkürlich, wie es Heinrich Detering so kongenial in seiner Analyse des Spätwerks darstellt.
The Chrysler Superbowl TV-Commercial
Auch Dylans Werbefilm zum Superbowl 2014 wurde naserümpfend betrachtet. Natürlich wird ihm ewig schon vorgehalten, überhaupt Werbung zu machen. Und dann auch noch für eine Automarke. Und so nationalistisch!
Doch gerade in diesem Werbefilm, der eine Mischung aus Americana-Video, USA-Werbefilm, Dylan-Referenzen und 40er Jahre-Ambiente ist, zeigt sich wie stark Dylan kulturell und gesellschaftspolitisch vom „New Deal“ geprägt ist, wie schon Sean Wilentz in seinem Buch „Dylans Amerika“ herausgearbeitet hat. Dylans gesellschaftliche Koalition ist immer noch die „New Deal-Koalition von gewerkschaftlich organisierten Industriearbeitern, Afroamerikanern und städtischen Mittelschichten“ (Nancy Fraser, „Für eine Neue Linke!“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2/2017). Und so erklärt sich auch die gewisse Distanz zu Teilen der Protestgeneration der 1960er wie den Hippies, deren Subkultur vor allem als alternativer Lebensentwurf für die Söhne und Töchter der großbürgerlichen Eliten zu verstehen ist.
Dylan hat eine Empathie für die darbenden Autobauer und den heruntergekommenen Städten des „Rust Belt“ wie beispielsweise Detroit, denen er ihren Stolz wiedergeben will. Sicher bietet der Spot keine scharfe Analyse, und man fragt sich ob Dylan eigentlich wusste oder ob es ihm egal war, das Chrysler mittlerweile eine hundertprozentige Tochter des italienischen Fiat-Konzerns ist. Aber, und das ist Dylan wichtig, Chrysler produziert seine Fahrzeuge der traditionsträchtigen und klangvollen US-Automarken Chrysler, Dodge und Jeep weiterhin an einigen Standorten in den USA.
„We Live In A Political World“
Dylans Kritik am globalen Kapitalismus ist alles andere als kohärent oder differenziert. Er ist Künstler, kein Ökonom oder Politiker. Im Gegenteil, gern hat er in seinem Werk immer wieder mal derbe gegen Politiker ausgeteilt. Ob in „Political World“ von 1990 oder in „It’s All Good“ 2009. Die direkten Kontakte zur Politik lassen sich an einer Hand abzählen. Jimmy Carter nannte ihn seinen Freund, bei Bill Clintons erster Inauguration spielte er noch, dann war er weder bei ihm noch bei Obama bei der Amtseinführung zu sehen. Der lud ihn zwar mehrmals – mal zur Preisverleihung, mal zum musikalischen Auftritt- ins Weiße Haus ein. Doch öffentlich mochte er Obama im Gegensatz zu anderen Musikern nicht lauthals unterstützen. Er sah wohl in ihm nicht denjenigen, der die US-Gesellschaft und die Welt. grundlegend verändern und verbessern konnte. Auch hier zeigte sich Dylans Selbstverortung im alten New Deal und nicht in der auch für Obama weiterhin konstitutionellen Clinton-Koalition aus „Unternehmern, Vorortbewohnern, neuen sozialen Bewegungen und jungen Leuten“ (Nancy Fraser). Dylan widerstand dem Obama-Hype. Der nun nach der Trump-Tragödie ohnehin nur eine finale Episode zu Ende des progressiven Neoliberalismus gewesen zu sein scheint. Eine neue amerikanische Linke muss ein neues Bündnis mit den Globalisierungsverlierern zu Hause und in aller Welt schmieden.
Dass es in Bob Dylans gewaltigem Oeuvre immer wieder gewichtige Fundstellen gibt, die belegen, dass er die Grundprinzipien der Globalisierung verstanden hat, sie kritisiert und Partei für die Verlierer dieser Entwicklung ergreift, zeigt einmal mehr Dylans Bedeutung als Künstler, der sich mit den universellen Menschheitsfragen auseinandersetzt.
Dylan stand und steht nie auf der Seite der Mächtigen. Nicht umsonst ist er aus der bürgerlichen Idylle seines Elternhauses ausgebrochen, um Woody Guthrie, die Stimme des anderen Amerikas zu treffen. Auch einer, der noch Kontakt zu den einfachen, hart arbeitenden Menschen hatte. Dass das linksliberale Amerika der Küsten diesen Kontakt verloren hat, ist eine große Tragödie. Und Bob Dylan ist daher auch so etwas wie das permanente schlechte Gewissen dieser Generation, die seit Bill Clinton das liberale Amerika geführt hat.