
Über Mel Haggard sind in den vergangenen Tagen seit seinem Tod sehr viele gute Beiträge zu lesen gewesen, allem voran auf country.de, dem deutschsprachigen
Country-Onlinemagazin. Dem hatte und habe ich nicht viel hinzuzufügen und dennoch dachte ich mir, dass auf einer Seite, die sich nun schon seit fast sieben Jahren mit Bob Dylan und Americana beschäftigt, sich eine Würdigung von Merle Haggard einfach gehört. Also hier ein paar persönliche Gedanken.
Jeder weiß, und das steht ja auch über diesem Blog, dass ich über Bob Dylan musikalisch sozialisiert wurde. D.h. auch, dass ich viele Künstler erst durch ihn kennen- bzw. schätzen gelernt habe. Merle Haggard ist so ein typischer Fall. Ich habe ihn erst spät entdeckt. Für mich war er viele Jahre nicht mehr als ein bekannter Countrysänger, von dem ich eine Best of-Kompilation im Plattenregal hatte. Und was ich von ihm kannte – „Okie from Muskogee“ – war ja auch eher schlecht beleumundet.
Doch dann kam ja Anfang des Jahrtausends für mich die Entdeckung der Old Time Music und dann hatte Dylan 2005 den alten Merle für sein Vorprogramm verpflichtet und den Song Workingmans Blues #2 – also ein direkter Merle-Bezug – auf seinem 2006er Album „Modern Times“ veröffentlicht. Und ich dachte mir, was soll das jetzt? Also begann ich zu forschen und zu recherchieren. Ich entdeckte den original „Workingmans Blues“. Ich entdeckte Merles Vorliebe für Jimmie Rodgers und holte mir seine Tributalben zu dem „Singin‘ Brakeman“ und zu den Bristol Sessions. Ich sah eine interessante Doku über ihn und las in einem Interview, wie kritisch er die Politik der Republikaner in den USA sah. Ich staunte über seine Songlyrik und über sein Ansehen bei Musikern wie Joan Baez, Kinky Friedman oder Kris Kristofferson. Ich hatte viel Spaß mit seinen neueren Alben und seiner Zusammenarbeit mit Willie Nelson – Cool Old Cats! Und der Video zu „We’re All Going To Pot, wie ironisch da Merle und Willie am Joint zogen. „We don’t smoke Marihuana in Muskogee“- hahaha!
Dann kam Angang 2015 Dylans atemberaubende Music Cares-Rede und ihre verstörende Haggard-Passage, die Dylan umgehend noch einmal klar stellte. Nein, er hat nichts gegen den Merle von heute. Er ist mit ihm getourt und hätte ihn gerne als Fiddler für sein Jimmie Rodgers-Projekt gewonnen. Aber in den 60er Jahren, da hätte ihn Haggard mit den Hippies, die er damals nicht leiden konnte, in einen Topf geworden. Und dann sagt Dylan dann etwas sehr entscheidendes: „Merle Haggard zählt heute eher zur Gegenkultur“.
Und doch war dieser Merle Haggard, so sehr ich ihn bewundere, stets eine ambivalente Erscheinung. Als wir ihn letztes Jahr in den Staaten in North Carolina noch bei einem Konzert sehen durften, da war das musikalisch großartig, Atmosphäre und Publikum jedoch recht speziell. Alle waren weiß, alle trugen Basecaps und Karohemd, nur wenige Cowboyhut. „America Is Great“ sowie „If you don’t love it, leave it“ waren auf Merles Devotionalien so dick aufgetragen, dass es schwer verdaulich war. Aber wohl eindeutig zielgruppengerecht. Sie haben ihn geliebt, aber sie haben seine Songs sicher nie so ironisch verstanden, wie er den „Okie from Muskogee“ zuletzt gerne verkauft hat. Es waren die weißen amerikanischen Arbeiter und Farmer, die Merle Haggards Konzert in North Carolina besucht haben. Diejenigen, die in ihrer prekären sozialen Situation Zuflucht im rückwärtsgewandten Patriotismus suchen. Und es ist sicherlich nicht zu gewagt anzunehmen, dass viele von denen jetzt auch Donald Trump-Fans sind.
Merle Haggard ist somit einer dieser Künstler, die immer weit toleranter und geistig freier sind als ihr Publikum, und die einfach nicht rauskommen aus ihrer Schublade, so sehr sie sich auch bemühen und somit auch stets gezwungen sind oder sich gezwungen fühlen, ihre alten Fans und deren Lebens- und Gedankenwelt zu bedienen. Und dennoch jeden Respekt verdienen, weil sie künstlerisch großartiges geschaffen haben. Und das hat Merle Haggard. Wie kaum ein anderer in Countrymusik.
Kinky Friedman sang im letzten Jahr auf Tour stets Haggards „Hungry Eyes“ und kündigte den Song mit den Worten „der ist von dem großen amerikanischen Songwriter Merle Haggard“ an. Merle hinterlässt eine große Lücke. Gut, dass ich ihn noch erleben durfte.