Archive for Dezember 2021

Er malt sein Meisterwerk

29. Dezember 2021

Von Shadow Kingdom zur Rough And Rowdy Ways World Tour 2021-24: Innerhalb weniger Monate zeigt der 80-jährige Musik-Großmeister zwei ganz unterschiedliche Gesichter und schafft auf seinen Konzerten weiter große Kunst

Official Announcement, Copyright: http://www.bobdylan.com

Manchmal braucht es seine Zeit. Da ist man mit so vielen wichtigen Dingen im Alltag beschäftigt, da ist man nicht in der Lage, sich wirklich in Ruhe und ausführlich anderen wichtigen Dingen zu widmen. Mit Bob Dylans Herbsttour ging es mir so. Ich vernahm die Kunde, hörte in die Musik rein und war einfach erfreut, dass er wieder auf Konzertreise ging. Zu einer systematischen Beschäftigung aber kam ich erst jetzt, in den ruhigen Tagen zwischen den Jahren.

Aber kaum hörte ich wieder seine aktuelle Musik, las und hörte Konzerteindrücke und Musik der Auftritte in Milwaukee, Bloomington, Chicago, New York und Washington, da waren das alte Gefühl und vor allem die Einsicht wieder da: Er ist und bleibt für immer der bedeutendste Musiker in meinem Leben. Die Auseinandersetzung mit ihm als Person der Zeitgeschichte und mit seinem künstlerischen Werk ist unvermindert spannend und lohnend. Also hilft es nichts. Ich muss mich mit seinen aktuellen öffentlich konzertanten Leistungen auseinandersetzen und darüber schreiben.

Shadow Kingdom

Das Konzertevent kam für mich 2021 ungefähr genauso überraschend wie 2020 „Murder Most Foul“. Wer hatte damit gerechnet, dass Bob Dylan, während die meisten anderen schon wieder von Stream-Konzerten Abstand genommen hatten, nun plötzlich ein Online-Konzert ankündigte? Und streng genommen tat er es ja auch nicht. Denn das, was wir im Juli dieses Jahres sehen konnten, war die Mischung aus einem überlangen Video und einem kurzen Konzertfilm. Zu den typisch dylanesken Versatzstücken dieses durch und durch Sehens- und hörenswerten Werks – Schatten, Masken, Juke Joint, Zeitlosigkeit, Vielfältigkeit – habe ich in zeitlicher Nähe zur Ausstrahlung schon einiges bemerkt:
https://cowboyband.blog/2021/07/20/wo-viel-rauch-ist-ist-auch-viel-schatten/

Dann machten irgendwann im Spätsommer Gerüchte die Runde, Dylan würde zur Herbsttour aufbrechen. Es ploppten Termine auf, die wieder verschwanden, und just als die meisten die Hoffnung begraben hatten, war sie plötzlich da: Die Herbsttour. 21 Termine in knapp vier Wochen an 17 Orten. An Dylans langjährigen ausschweifenden Tour-Eskapaden gemessen ist das kurz und kompakt, für einen 80-jährigen jedoch absolut stark.

Rough And Rowdy Ways World Tour 2021-24

Und auch wenn ich bei keinem Konzert persönlich anwesend war. Was ich gelesen und vor allem gehört habe, reicht, um mir nach gut 45 Jahren eigener Bob-Geschichte, eine Meinung zu dieser „Rough And Rowdy Ways World-Tour“ zu bilden. Also dann!

Ich kann es mir nicht verkneifen, es zu fragen: Wird Dylan altersmilde? Selten war er so gesprächig wie heute. Stellt alle Musiker vor, reagiert schlagfertig auf Zuschauer und hat für jeden Konzertort ein Sprüchlein und nette Worte parat. Noch dazu ist die Bühne hell erleuchtet – sogar vom Boden aus – und damit  bieten die Konzerte visuell durchaus ein Kontrastprogramm zu Shadow Kingdom. Wird Dylan jetzt zum lieben Onkel Bob, zum verbindlichen Entertainer? Keine Sorge, die Performance, die Musik und die Texte sprechen immer noch eine andere Sprache.

„Rough And Rowdy Ways“ ist ein Album zu dem Dylan so sehr steht wie er schon lange nicht mehr zu einem Album gestanden hat. Wahrscheinlich so sehr wie seit der kontroversen Gospel-Phase nicht mehr. Also zelebriert er dieses Album mit acht Songs davon, dazu ein paar ältere Juwelen wie „Every Grain Of Sand“ oder „When I Paint My Masterpiece“, ein Sinatrastück. Es fehlen aber genau die, worauf er immer noch oftmals reduziert wird: die Protestsongs.

Bilanzierende Selbstverständigung und idealtypisches Amerika

Stattdessen webt Dylan seit Anfang dieses Jahrtausends stetig am Patchwork-Quilt des idealtypischen Amerikas. Und wenn es bei „Rough And Rowdy Ways“ auch um vielerorts um Alterseinsichten, Selbstbesinnung und sein Verhältnis zu Gott geht, so ist auch diese Dimension voll da. Sei es mit „Key West“ als Sehnsuchtsort der amerikanischen Freiheit und Toleranz oder mit „Goodbye Jimmy Reed“ als Song, der amerikanische Themen wie Religion, Rassismus und populäre Musik verhandelt. An letzterem hat er auch mit der Song- und Künstlerauswahl seines „Theme Time Radio Hour“-Nachklapps zum Thema „Whiskey“ angeknüpft. Der überwiegende Anteil afroamerikanischer Künstler war sein Kommentar zum Rassismus in den USA und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nach der Ermordung George Floyds im Frühjahr 2020 in Minneapolis.

Bob Dylan live on stage 2021, Copyright: Wikimedia Commons

Beide Songs sind ebenso im Live-Programm wie „False Prophet“, sein „It Ain’t Me Babe“ des neuen Jahrtausends, oder „My Own Version Of You“, dessen absurd überspitzte Darstellung von Marx und Freud ja nur eine ironische sein kann, weiß Dylan doch genau, warum gerade die Mächtigen vor den Einsichten der beiden jüdischen Intellektuellen schon immer so vehement warnen.

Songs wie „I Contain Multidudes“ und „Mother Of Muses“ von RARW haben aber das Terrain vorgegeben, das Dylan nun auch in seinen Konzerten beackert: Selbstverständigungen, Erklärungen, Bilanzen. Was man im Spätherbst seiner Karriere wohl eben so macht. Aber natürlich macht das keiner so gut wie Dylan.

Textrevisionen

Martin Schäfer hat in seinem lesenswerten Aufsatz für „Key West“ im Frühling diesen Jahres auf die Textrevisionen Dylans sowohl auf www.bobdylan.com als auch in den letzten Buchausgaben dessen „Lyrics“ hingewiesen: https://keywestmagazin.com/2021/05/13/dylaneske-poetologie/ .

Auf der Bühne ist Dylan stets frei mit seinen Texten umgegangen, hielt sich aber im Großen und Ganzen an die Vorgaben. In jüngster Zeit hat er jedoch ziemliche Textrevisionen unternommen. So bei „To Be Alone With You“ oder auch „When I Pain’t My Masterpiece“. Und „Gotta Serve Somebody“ hat außer den ersten beiden Zeilen einen gänzlich neuen Text bekommen. Hier hat wiederum Laura Tenschert in ihrem spannenden Konzertbericht vom Dezemberkonzert in Washington auf ihrem Podcast „Definitely Dylan“ herausgearbeitet, dass die dichotomische Message bei GSS sich nicht geändert hat – „Entweder bist Du auf der Seite des Guten oder des Bösen“ – während „To Be Alone With You“ von einem lieblichen Liebessong zu einem düsteren (Alb-)Traum geworden ist und sich in eine Reihe, so Tenschert mit „Early Roman Kings“ und „My Own Version Of You“ einfügt. Wobei ich hier den Vergleich mit „Soon After Midnight“ noch passender finden würde, dessen Zeilen wirklich die „dünne Linie zwischen Liebessong und Mörderballade“ (Tenschert) beschreiten.

Oberthema: „Rough And Rowdy“

Dylan ist also keineswegs der harmlose joviale Unterhalter, wie die Äußerlichkeiten der Herbstkonzerte suggerieren. Nein, Dylan verfolgt auch hier ein klares künstlerisches Konzept. Seine „Rough And Rody Ways Tour“ versammelt eine ganze Menge „Rough And Rowdy Way-Songs“. Vielschichtige düstere Balladen wie „Black Rider“, My Own Version Of You“ oder „False Prophet“. Dazu kommen jüngere Songs, die schon zu diesem Label passen wie „Early Roman Kings“ oder eben den textlich völlig veränderten Song „To Be Alone With You“.

Selbst „When I Paint My Masterpiece“ – es gehört schon immer zu seinen „Selbstverständigungs-Songs – ist verändert. Jetzt lässt er kein Mädchen aus Griechenland mehr bei sich sein – nein er kehrt der Welt den Rücken, wenn er sein Meisterwerk malt. Und er muss vorher gründlich seine Kleider waschen und alles Fett abkratzen. Sprich: sich völlig von der Welt lösen. Dylan ist mit 80 Jahren entschiedener denn je.

Denn mit 80 Jahren bekennt er sich nochmal neu zu seinem Selbstverständnis als Künstlerpersönlichkeit: „I Contain Multitudes“, „False Prophet“, „Mother Of Muses“. Und zu seinem idealtypischen Amerika: „Key West“, „Goodbye Jimmie Reed“. Und zu seinem Glauben: „I’ve Made Up My Mind To Give Myself To You“, Gotta Serve Somebody“, Every Grain Of Sand“.

Die Setlist als Summe der künstlerischen Einsichten und Bekenntnisse

Dylan zeigt uns als Summe seiner Karriere keine Setlist der größten Charterfolge, sondern eine Setlist, die seine künstlerischen und möglicherweise auch ein paar menschliche Einsichten sowie seine grundlegenden Bekenntnisse wiederspiegelt. Das kann nur Bob Dylan. Denn welcher Künstler außer Dylan würde es sich wagen, keinen einzigen seiner großen Hits zu spielen. Stattdessen nimmt er uns mit auf die Reise in sein künstlerisches „Hier und Jetzt“. Nicht der Entertainer als „Hit-Jukebox“, sondern der unvermindert kreative wie künstlerisch-potente Song-Bildhauer und Textmaler tritt da auf die Bühne nimmt uns jeden Abend mit in seine Werkstatt.

Im Spätherbst seiner Karriere ist Dylan mehr denn je ein Gesamtkunstwerk und seine eigene Erfindung. Ob der Maler, der Schöpfer von kunstvollen Gartentoren, der Whiskey Blendmaster Supervisor, der Radiomacher, der Songpoet und Live-Performer- alles nur verschiedene Aggregatzustände eines Elements: des großen Jahrhundertkünstlers Bob Dylan und seiner unstillbaren Kreativität, die fast nicht zu stoppen ist – „Sometimes I feel like my cup is running over“ (Masterpiece 2019/2021).

Musikjournalist, Blogger, Konzert-Kurator: Thomas Waldherr. Copyright: Cowboy Band Blog

All dies bekommt noch einmal eine besondere Qualität dadurch, dass Dylan mit 80 Jahren weitaus besser singt als mit 50. Und dass er sein Können als Arrangeur und Veränderer seiner Songs mittlerweile so perfektioniert hat, dass jeder neue Tourabschnitt große musikalische Überraschungen bietet. Und die Konzerte heute unterhaltsamer denn je sind.

Es ist daher nur zu hoffen, dass es die pandemische Entwicklung im Jahr 2022 ermöglicht, dass dieser Bob Dylan, dieser immer wieder aufs Neue großartige Künstler, weiter auf Tour geht. Wenn nicht, wäre das ein großer Verlust. Wir hoffen unvermindert das Beste!

Guten Rutsch und auf Wiederlesen in 2022!

In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern meines Blogs einen guten Rutsch ins neue Jahr. Auch wenn die pandemische und die politische Weltlage nicht unbedingt ein tolles und friedliches neues Jahr versprechen: Die Hoffnung bleibt!

Für das Interesse an diesem Blog bedanke ich mich sehr. Auch 2022 werde ich weiter an dieser Stelle meine Gedanken rund um Bob Dylan und Americana veröffentlichen. Es bleibt spannend!

Herzliche Grüße
Thomas Waldherr

John Mellencamp – immer noch unermüdlich, kreativ und engagiert

17. Dezember 2021

Der Heartland-Rocker wurde im Oktober 70 Jahre alt, hat eine starke Bindung zu Bob Dylan und bringt Anfang nächsten Jahres ein neues Album heraus

John Mellencamp, Copyright Wikimedia Commons

Er ist neben Bob Dylan, Bruce Springsteen und Neil Young der wichtigste lebende Vertreter der amerikanischen Rockmusik. Während Dylan dem Rock zu Hirn verhalf und den Rockstar als Maskenmann kreierte, Springsteen einen Sound erfand, der wie die gut geölten Maschinen des amerikanischen Arbeiters klang und Texte über die Underdogs singt und Neil Young immer wieder Folk mit Hippieträumen und Garagen-Grunge-Rock zusammenbringt, ist John Mellencamp der Heartland-Rocker. Aus dem mittleren Westen, irgendwo in Indiana, stammend, hat er sich über die Jahre vom Radio-Hit-Rocker – „Jack & Diane“, „Hurts So Good“, „Pink Houses“, „White Nights“ zum Folk- und Americana-Künstler entwickelt. Zwar hatte er immer schon Folk-und Roots-Einsprengsel mit Violine in seiner Musik, doch spätestens ab Ende der 1990er Jahre wird das zu seiner bestimmenden musikalischen Ausdrucksform.

Americana mit politischen Botschaften

2003 erscheint sein sinnstiftendes, stil- und genreprägendes Roots-Album „Trouble No More“ mit neu aufgenommenen und neu interpretierten klassischen Songs von Woody Guthrie bis Robert Johnson. Doch überstrahlt wird das Ganze von dem Skandal um seine Version des alten Charlie Poole-Klassikers „From Baltimore To Washington“, die eine Abrechnung mit Präsident George W. Bush darstellt. Die Folge: Viele konservative Country-Radiostationen boykottieren ihn. Doch dies ficht den überzeugten Demokraten nicht an. Mit Alben wie „Freedom’s Road“ und Songs wie „Our Country“ versucht er unermüdlich, das gute, das andere Amerika zum Leben zu erwecken.

Doch wo „Our Country“ 2007 noch wie der Song zum Optimismus der frühen Obama-Ära klang, so ist seine Musik in den letzten Jahren deutlich dunkler und ernüchterter geworden. Mit seinem Song „Easy Target“ kritisierte John Mellencamp zum Amtsantritt von Donald Trumps 2017 die gesellschaftlichen Zustände in den USA und geißelte unter anderem Waffengewalt, ethnische Ungerechtigkeit und Armut uns sagte im Interview:  „Das Land verändert sich langsam durch die Männer, die wir an die Spitze stellen, und ich habe Angst davor. Das Land hat sich verändert, durch das was passiert ist.“ 2020 auf dem Höhepunkt der Black Lives Matter-Proteste schließlich veröffentlichte er mit „A Pawn in the White Man’s Game“ einen Anti-Rassismus-Song in Anlehnung an Bob Dylans Klassiker „Only A Pawn In Their Game“.

Enge Beziehung zu Bob Dylan

Überhaupt hat Mellencamp eine starke Verbindung zu Bob Dylan. Denn er hat in jungen Jahren als „Bob Dylan-Jukebox“ angefangen. „Ich konnte jeden Bob Dylan-Song“ hat er mal in einem Interview gesagt. Heute ist der Mann aus Midwest mit dem großen Bob, der in diesem Jahr 80 geworden ist, befreundet. Und der sagt ihm schon mal unangenehme Wahrheiten wie „diese Aufnahme ist Scheiße, John“, wie Mellencamp in einem Interview zugab.

Dass Dylan aber trotzdem große Stücke auf John hält, beweist die exponierte Erwähnung in Dylans berühmter Musicares Speech 2015: „Und so wie mein Freund John Mellencamp singen würde – weil John heute etwas Wahres gesungen hat – eines Tages wirst Du krank und es geht Dir nicht besser.“

Neues Album – erstes Alterswerk?

Und nun also sein neues Album „Strictly One Eyed Jack“. Als Auskopplungen aus dem Album sind bislang „Chasing Rainbows“ und „Wasted Years“ erschienen. Letzteres ist eins von drei Duetten mit Bruce Springsteen, die auf der Platte sind. Der Song ist schon ein etwas resignativer Rückblick aufs Leben. Klar, wer für solche Ideale wie die beiden alten Knaben lebt, der kann nicht frohgemut sein ob der Zustände auf dieser Welt. Und besonders Bruce, der im September bereits 72 Jahre wurde sieht irgendwie alt aus. Auch „Chasing Rainbows“ ist ein altersweiser Song und erklärt Wahrheiten  über die Suche nach dem Glück. Man darf gespannt sein auf die anderen Songs, im Moment sieht es so aus, als wäre das neue Album die erste wirkliche Altersplatte des ehemaligen „Cougar“.