Lebensadern und Wasserstraßen: Der amerikanische Mythos „River“ hat auch in Bob Dylans Werk seinen Platz und wird von ihm vermischt mit der antiken Flusslehre
Ein weitere Folge zu den archetypischen Motiven der amerikanischen Folkmusik. Diesmal: Der „River“.
Flüsse sind Naturräume, die sich über unendliche Zeiten ihren Weg durchs Land gebahnt haben. Die Menschheit hat sie zu Kulturräumen gemacht. Wasserstraßen, die dem Transport von Menschen und Gütern dienen. Und die dann über diese profane alltägliche Nutzung hinaus wiederum in Kunst Eingang finden. Als Referenzobjekte und identitätsstiftende Merkmale bis hin zur mythischen Überhöhung. In der Volkskunst der populären amerikanischen Musik, insbesondere der Folk, Country- und Bluesmusik sind sie natürlich auch zu einem zentralen Bestandteil geworden. In Ablösung der Mythen der Native Americans, die als Naturvölker mit den Flüssen lebten.
Mythos Mississippi
Der größte amerikanische Mythos ist natürlich der Mississippi, der sich vom nördlichen Minnesota bis zum Golf von Mexiko erstreckt. Immer wieder besungen. Eines der bekanntesten Werke dürfte hier von Johnny Cash stammen. Dessen „Big River“ ist die Kulisse für eine Geschichte, in der Protagonist seiner großen Liebe entlang des Flusslaufs des Mississippi folgt. Die sehnsuchtsvolle und am Ende unglückliche Reise beginnt in St. Paul, Minnesota und führt über die Stationen Davenport (Iowa), St. Louis (Misssouri), Memphis (Tennessee), Baton Rouge (Louisana) schließlich nach New Orleans.
Wir nähern uns Dylans Flussgeschichten über die Verbindung zu Big River an. „Tangled Up In Blue“ ist auch eine unglückliche Verfolgungsjagd nach der großen Liebe (Siehe meinen letzten Betrag: https://cowboyband.blog/2022/01/07/bob-dylan-still-on-the-road-heading-on-a-train-riding-on-a-car/). Auch hier zieht der Sänger von Nord nach Süd, ist am Ende in Louisiana erst in Delacroix, dann in New Orleans angekommen. Der River spielt hier aber nur mittelbar eine Rolle. Aber wie er auch hier die amerikanische Landschaft und die traditionellen Folkmythen mit seiner ihm eigenen vertrackten Songmalerei – auch hier wird von Schauplatz zu Schauplatz gesprungen und die Erzählebenen und -perspektiven gewechselt – zusammenbringt ist faszinierend.
Der mächtige, unheilvolle Fluss
Zwei zentrale River-Motive spielen in seinen Songs eine Rolle. Da ist zum einen das immer wiederkehrende Bild des unheilbringenden unzähmbaren mächtigen Flusses. Vom 1967er „Crash On The Levee (Down In The Flood)“ über „High Water(For Charley Patton)“ von 2001 bis zu „The Levee’s Gonna Break“ von 2006 erzählt er von dieser Gefahr und orientiert sich dabei an den afroamerikanischen Songs dazu, die besonders voller Unheil waren, weil die Schwarzen ungleich mehr unter den Folgen solcher Flutkatastrophen leiden mussten. Siehe auch meinen Cowboy Band Blog-Eintrag „High Water Everywhere“: https://cowboyband.blog/2021/02/12/highwater-everywhere/
Der stoische Fluss
Und dann steht der Fluss bei ihm als Metapher für das stoische. Dylan interessiert nicht der Fluss als Wasserstraße, als Mittel, um unterwegs zu sein. Der Fluss ist da und er sitzt da und schaut ihm beim Fließen zu. Das ist das stärkste Bild dafür, nicht aktiv zu sein. Der Fluss ist aktiv. Aber ohne sich Gedanken zu machen – er fließt halt. Das ist seine Natur. Dylan selber ist reflexiv, ohne daraus unmittelbar Aktivität abzuleiten. Das scheint seine Natur.
Der Fluss steht in „Watching The River Flow“ aber auch für die Zeitläufte. 1971, als der Song geschrieben und aufgenommen wird, sind die Zeiten in Amerika hoch politisch. Alle wollen sie, dass Dylan wieder zum Anführer wird – was er ja nie sein wollte. Also verweigert er sich ein weiteres Mal. Er bleibt passiv und schaut den Dingen zu. Und erntet natürlich wieder Entrüstung.
Es ist so eine Art weiteres Manifest von Dylan, das dafür steht, sich vor keinen Karren spannen zu lassen. Ihn zu etwas zu zwingen, bringt nix. Er entscheidet wann und wofür er sich engagiert. Umso mehr erst die Überraschung über seinen Song „George Jackson“ 1971 und dann die Enttäuschung, dass wieder jahrelang kein politisches Engagement Dylans folgt. Erst 1975 sollte er sich für den schwarzen Boxer Rubin „Hurricane“ Carter einsetzen.
Panta Rhei
„Watching The River Flow“ ist über die Jahre immer wieder Teil des Live-Programms. In den jüngsten Konzerten – seit seinem großartigen „Shadow Kingdom“ spielt es auf der Bühne eine zentrale Rolle. Nicht mehr „Things Have Changed“ ist der programmatische Opener, sondern „Watching The River Flow“. Der alte Dylan sitzt wieder am Fluss. Er hat alles schon gesehen, Er macht sich nicht auf den Weg zu den Dingen, sondern wartet bis sie an ihm vorbeiziehen. Stoisch wie ein alter Häuptling der Native Americans. Dylan beobachtet, schwelgt in Erinnerungen an und den in Selbstverständigungen über seine „Rough And Rowdy Ways“, die das aktuelle Bühnenprogramm bestimmen.
Dylan weiß, dass alles im Fluss ist: „Panta Rhei“. Der alte Dylan mischt den Mythos River mit der Flusslehre Heraklits, Platons und Ovids. Dylan kennt seinen Ovid, der die Gedanken Heraklits als Fundament in seinen Metamorphosen darlegt. Er hat ihn in den letzten Jahren immer wieder in seinen Texten bemüht. Alles verändert sich, alles ist endlich. Auch Dylan selbst. Und das weiß er. Und kündigt uns gleich mal eine World Tour 2021 – 2024 an. Typisch Dylan!