Die Singer-Songwriterin spielt das „Manchester Free Trade Hall -Konzert“ in der Royal Albert Hall nach und schafft damit etwas ganz besonderes und eigenes
Am kommenden Freitag (10. November) erscheint der Mitschnitt eines der ungewöhnlichsten Konzerte der letzten Jahre. Denn die US-amerikanische Singer-Songwriterin Cat Power alias Chan Marshall hat vor fast genau einem Jahr eine Song-für-Song-Neuauflage eines der legendärsten und wichtigsten Live-Konzerte in der Geschichte der populären Musik gegeben. Im Mai 1966 fand Bob Dylans Konzert in der Manchester Free Trade Hall statt, das aufgrund eines falsch beschrifteten Bootlegs lange Zeit als „Royal Albert Hall Concert“ bekannt war. Bei dem Originalauftritt wechselte Dylan in der Mitte der Show von der akustischen zur elektrischen Version, was den Zorn so mancher Folk-Puristen auf sich zog, die seinen schon im Juli 1965 in Newport vollzogenen Schwenk zum Folk-Rock weder verstanden noch goutierten.
Jedes Konzert ein Kampf mit dem Publikum
Alle Konzerte Dylans in den Jahren 1965/66 wurden aufgrund dessen zu Unruheorten. Es standen sich gegenüber: Ein Künstler, der seine neue Ausdrucksform gefunden hatte und ein Publikum, dass dies dem Künstler nicht gönnte, weil es ein anderes ästhetisches und inhaltliches Empfinden hatte als dieser. Die Konzerte wurden teilweise zu einem abendlichen Kampf und so nervenaufreibend, dass es sogar Schlagzeuger Levon Helm zu viel wurde und er den Dienst quittierte. Alles gipfelte schließlich an jenem Frühjahrsabend, als einer aus dem Publikum zu Dylan „Judas!“ rief und Dylan darauf entgegnete „I don’t believe you, you are a liar“, um sich dann mit dem Ausruf „Play it fucking loud“ in eine majestätische Versino von „Like A Rolling Stone“ zu stürzen.
Den Lauf der Rockgeschichte haben die Kritiker nicht aufhalten können. Im Gegenteil, die Rockmusik löste den Folk als Musik einer kritischen Generation ab und Dylan brachte der oftmals trivialen Rockmusik Poesie und kritische Texte bei. Die Konzerte jedoch, die Dylan 1966 spielte gehören bis heute zum Besten, was er je auf die Bühne gebracht hat. Die akustischen Songs hatten durch seine Performance etwas Magisches. Eine Intensität, der man sich nicht entziehen kann. Und die elektrisch verstärkten Songs waren voller Dynamik, Spielfreude und Hingabe. Es waren musikalische Sternstunden. Zusammen mit der Anspannung von Teilen des Publikums ergaben sich knisternde Live-Momente, wie man sie nachher selten noch gehört hat.
Cat Powers Verehrung für Bob Dylan
Dieses Konzert von 1966 also brachte Cat Power im November 2022 auf die Bühne der Royal Albert Hall. Als Songwriterin hat Marshall eine besonders starke Affinität zu dem Songwriter-Übervater, den sie als „Gott Dylan“ bezeichnet. Wie bei dem Original-Konzert spielte sie die erste Hälfte ihres Sets komplett akustisch, um dann in der zweiten Hälfte mit Hilfe einer kompletten Band elektrisch zu spielen: Gitarrist Arsun Sorrenti, Bassist Erik Paparozzi, die Multiinstrumentalisten Aaron Embry (Mundharmonika, Klavier) und Jordan Summers (Orgel, Wurlitzer) sowie Schlagzeuger Josh Adams.
Sicher ist die Konzert-Situation, die Erwartungshaltung des Publikums heute eine ganz andere. Die Schlachten sind geschlagen. Wie es Cat Power hier aber dennoch gelingt, ein knisterndes und spannendes Konzert zu spielen, bezeugt ihre Ausnahmestellung. Das Ganze hätte auch ein lauwarmer, erinnerungsseliger Nostalgie-Tripp werden können. Im Gegenteil: Sie spielt die Songs so, als wären sie gerade erst entstanden. Sie eignet sie sich an. Obwohl sie musikalisch nicht sehr vom Original entfernt sind, wirken sie frisch und anarchisch und dynamisch. Marshall lebt jede Zeile aus, geht in den Liedern auf. Sie liebt diese Musik und sie lebt für diese Musik.
Weibliche Perspektive der Dylan-Songs
Natürlich wird auch seitens des Publikums eine Anspielung auf den berühmtesten Moment des Originalkonzerts nicht ausgelassen. So ruft ein Zuschauer kurz vor „Ballad of a Thin Man“ „Judas!“, woraufhin Marshall gelassen den Namen Jesus ausruft. Und tatsächlich war Dylan ja für einige Leute damals wirklich so etwas wie ein in Ungnade gefallener Messias.
Eine große Leistung Marshalls ist es den Songs eine weibliche Perspektive zu geben, nur so kann sie glaubwürdig die Songs spielen, können sie etwas mit Ihr zu tun haben. Alles andere wäre eine Nummernrevue. Ein Beweis dafür ist ihre Darbietung von „Just Like a Woman“, die eine raue Zärtlichkeit annimmt, die die große Empathie, die ihre gesamte Performance durchdringt, noch verstärkt.
„Ich hatte und habe immer noch großen Respekt vor dem Mann, der so viele Songs geschrieben hat, die dazu beigetragen haben, das bewusste Denken von Millionen von Menschen zu entwickeln, die Art und Weise, wie sie die Welt sehen, zu formen“, sagt Marshall. „Obwohl meine Hände so sehr zitterten, dass ich sie in den Taschen lassen musste, fühlte ich mich sehr geehrt. Es fühlte sich für mich wie eine echte Ehre an, dort zu stehen“, erinnert sich Marshall heute an dieses Konzert.
Jetzt schon ein Klassiker
Dass sie dabei aber dennoch nicht in Ehrfurcht vor den Werken des großen Mannes erstarrt ist, zeigt sich auf dieser Scheibe Track für Track. Ein großes musikalisches Erlebnis, dass für viele weitere Künstler:innen die Türen aufstoßen sollte, sich mit Dylans Musik zu beschäftigen. Cat Powers Dylan-Konzert-Album ist eine kongeniale Fortschreibung und bereits jetzt als Referenzprodukt zu Dylans historischen Rock-Konzerten der Mittsechziger Jahre ein Klassiker. Chapeau, Chan Marshall aka Cat Power!


