„Was will uns der Künstler damit sagen“ ist eine gerne genommene Floskel, wenn es um die Interpretation von Kunstwerken geht. Ob bei bildender Kunst oder bei Lyrik. Dabei scheint der gegenteilige Ansatz der sinnvollere zu sein: „Welche Gedanken und Gefühle weckt das Kunstwerk in Dir?“ Nimmt man diese Herangehensweise, dann kommt man dem Sinn und Nutzen für den Leser gerade bei der sogenannten „Stream Of Conciousness“-Literatur viel näher, als wenn man Zuflucht bei der vermeintlichen Autorität des Autors sucht. Sei es bei den Texten von Joyce oder Faulkner, sei es bei den Songlyrics von Bob Dylan.
Freie Assoziationen aus Popsong-Begriffen
Der Musikjournalist Günter Ramsauer hat nun Gedichttexte veröffentlicht, die eben seinen Bewusstseinsströmen folgen und trotzdem beim Leser ganz individuelle Gedanken erzeugen. Ramsauer nimmt aus Popsongs einzelne Wörter oder Zeilen und assoziiert sie frei weiter. So entstehen Bilder, die entweder Zeile für Zeile oder aber in der Beziehung der Zeilen untereinander wiederum beim Leser eigene Gedanken und Gefühle hervorrufen.
Die Texte mit Namen wie „Herzen in Dosen“, „Geisterfahrer und Zwang“, Duell Duett & Drama oder „Mädchen und Jungs“ führen über Begriffe, Wortpaare und Metaphern beim Lesenden zu völlig neuen Bedeutungsebenen. Sie ist somit eine höchst demokratische Lyrik. Sie dient nicht nur der Erbauung durch schöne Reime und wohlfeile Bilder, sondern führt manchmal in ihrer Verstörung durch absurde Wortpaarungen zu völlig neuen Zusammenhängen.
Faszinierende Vielschichtigkeit der Bedeutungsebenen
Beispiel gefällig? „Wir müssen raus hier/ Fort und weg/ Ins Niemandsland/ Such- und Versteckspiele/ Sucht- und Verderbdiebe/ Gnade und Erbarmen/ Am Fluss der Versuchung“ heißt es im Gedicht „Keller Mauern Schläge“. Für den Schreiber dieser Zeilen drängt sich das Thema auf, wie schnell die Suche nach Lebensalternativen in neue, andere und oftmals noch ausweglosere Abhängigkeiten geführt hat und immer wieder führen. Andere könnten gefährliche Liebschaften hier hineininterpretieren. Der Inhalt ist flexibel und das ist auch gut so.
Ramsauers Gedichttexte, die von einer feinen Einleitung von Heino Walter eröffnet werden, sind in ihrer Vielschichtigkeit faszinierend. Denn bei jeder neuen Lektüre, ergeben sich neue Bedeutungsebenen. Günter Ramsauer leistet mit seinem Verlag „truth & lies press“ wichtige Arbeit in Sachen deutscher Popliteratur. Mit dem vorliegenden Werk zeigt er, wie auch die deutsche Sprache sich für die Beatpoesie eignet. Lyrics mit dem richtigen Beat, einem guten Rhythmus und viel kreativer Phantasie. Wenn man sich darauf einlässt, bereichern sie einen. Gerade in diesen Zeiten der autoritären Absolutheit machen sie den Kopf frei für einen emanzipatorischen Umgang mit der Sprache.
Prädikat: Höchst lesenswert!
Günter Ramsauer, Schlag Worte Schmerz. MixTextMindCuts, truth & lies press, Esslingen 2024, 6, 99 Euro, zu beziehen über https://www.epubli.com/shop/schlag-worte-schmerz-9783759893123


