Dylans Deutschland-Tour 1981: Eine unterschätzte und missverstandene Konzertreise bedarf einer Neubetrachtung – neues Dylan-Buch zu diesem Thema soll in diesem Jahr erscheinen
Sechs Konzerte an vier Orten: Bad Segeberg, Loreley, Mannheim, München. Mit jeweils ca. 12.000 Zuschauern. Das Publikumsinteresse war da, trotz Dylans Konversion und der zwei christlichen Alben von 1979 (Slow Train Coming) und 1980 (Saved), die im Dylan-Lager äußerst zwiespältig aufgenommen wurden.
Als Dylan im Sommer 1981 zum zweiten Mal nach 1978 auf Deutschland-Reise ging, war er aber schon wieder weiter. Er begann sich gerade vom christlichen Fundamentalismus zu lösen. Doch mit solchen Feinheiten wollte sich ein großer Teil der veröffentlichten Meinung nicht beschäftigen. Und dass er nun alte Songs einstreute oder neue, weltlichere Songs – “I hope we played something that you came to hear” sagte er am Ende einiger Konzerte – wurde ihm wahlweise als Anbiederung oder Ausverkauf ausgelegt. Waren schon 1978 Dylans Konzerte umstritten – die Bandbreite reichte von Buhrufen und Wurfgeschossen in Berlin bis zum triumphalen Jahrhundertkonzert in Nürnberg – so war die Stimmung 1981 medial gesehen ausgesprochen gereizt.
Einmal Judas, immer Judas
Die Presse war sich erschreckend einig: Diesen Dylan wollen wir nicht. Er singt religiöse Songs, er hat Backgroundsängerinnen dabei, die auch noch Gospel auf offener Bühne singen. Mal soll der Sänger schlecht aufgelegt sein, dann wieder die Band. Dann soll sogar Dylan gepredigt haben (hat er nicht, Mitschiften beweisen es). Mal ist Dylan ausgebrannt, mal ein arroganter Superstar, mal ein ehrmaliger Politsänger, der sich selber und sein Publikum verraten hat. JUDAS! Nein, halt das war eine andere Tournee, wenn auch der Mechanismus der gleiche.
Hatte Dylans 1978er-Tour noch den Nimbus des ersten Mals und erzählte 1984 die tragische Geschichte von Joanie und Bobby, so ist die 1981er Deutschland-Tour bis heute nicht nur die umstrittenste, sondern auch die unterschätzteste Tour. Da sie aber die erste Tour war, der ich mit dem Mannheimer Konzert am 18. Juli 1981 beiwohnte, hat sie für mich immer einen großen Stellenwert.
Neue systematische Beschäftigung mit der 81er-Tour
Darum ist nun die Zeit gekommen, diese Tour systematisch unter die Lupe zu nehmen. In meinem neuen Buch will ich die Pressemeinungen bewerten und mit Augen- und Ohrenzeugenberichten kontrastieren. Ich will Dylan künstlerische Entwicklung und ihre Rezeption vor dem Hintergrund des konservativen Roll Back in den USA sowie des Erbes der 68er-Generation und den neuen sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik einordnen und natürlich meine eigenen Eindrücke schildern. Dazu kommen auch die eine andere anekdotische Geschichte von dieser Tour und die Erinnerung an Fritz Rau und seine Konzertagentur als Organisatoren der deutschen Konzerte. Das Buch soll noch dieses Jahr erscheinen.
Zeitreise
Schon jetzt einen großen Dank an alle, die mir bereits Ohren- und Augenzeugenberichte geschickt oder mich anderweitig unterstützt haben. Nun, nachdem ich zwei Tage im Lippmann+Rau-Archiv zur 81er-Tour recherchiert habe, wird das Buchprojekt Fahrt aufnehmen. Die Zeitmaschine steht bereit, sie wird mich in den nächsten Monaten 43 Jahre in die Vergangenheit reisen lassen. Aber aufgepasst: Die Geschichte bleibt wie sie ist, sie wird nur anders erzählt werden!
Bob Dylan, Girl From The North Country, Bad Segeberg 1981:
Bob Dylans Lied von Liebe, Zweifel und Unsicherheit/ Dylan und die „leichte Muse“
Copyright: Columbia Records
Das erste Mal hörte ich „Heart Of Mine“ im Radio. Im Juli 1981 erschien der Song zeitgenau zur Europa-Tour des Meisters. Und tatsächlich sah ich Dylan dann auch das erste Mal im Konzert am 18. Juli 1981 im Mannheimer Eisstadion. Als sich unsere kleine Konzertreisegruppe den Titel noch einmal kurz vor dem Aufbruch anhörte, äußerte sich mein Englisch-Lehrer vor allem auch damit zufrieden, dass die Produktion hier endlich wieder Dylan-like, sprich nicht perfekt sei. Wir erinnern uns ja gerne daran, dass beim Klassiker „Hurricane“ an einer Stelle Gitarren und Congas doch etwas aus dem Rhythmus kommen. Doch der Meister hat den Song trotzdem in der Version veröffentlicht, gerade weil es das Anliegen des Songs verstärkt.
Unsicher und stolpernd
Und der Kunstgriff klappt auch hier. Dieses Lied voller Zweifel darüber, ob man sein Herz jemanden schenken soll, vielleicht weil man in einer festen Bindung ist, oder einfach nur, weil man Angst davor hat, verletzt zu werden, wirkt umso stärker, weil die Musik hier manchmal stolpernd und holprig wirkt. Ein Dokument der Unsicherheit und des Zweifels. Auf den ersten Blick geht es hier um die Liebe, aber man kann das Frühjahr 1981, in dem das Lied aufgenommen wurde, schon insgesamt bei Dylan als Zeit des Zweifelns ansehen. Schon seit dem Frühjahr 1980 hatte sich sein fester Bund mit dem Fundamentalismus gelockert und seit Ende 1980 begann er auf seinen Konzerten alte und neue Songs zu mischen. Das im Frühjahr aufgenommene und dann im August veröffentlichte Album „Shot of Love“ mischte erstmals religiöse Songs wie „Property Of Jesus“ oder „Dead Man, Dead Man“ mir „weltlichen“ Songs wie „Heart Of Mine“, Watered Down Love“ oder „Lenny Bruce“. Und es gibt Songs, wo er religiös wird, ohne missionieren zu wollen, wie beispielsweise das wunderbare „Every Grain Of Sand“.
Wie muss ein Dylan-Song sein?
Doch zurück zu „Heart Of Mine“. Sieht man den Kontext in dem das Lied entstanden ist, dass ist es überhaupt nicht mehr das leichtgewichtige Liedchen, als das es von manch Dylan-Papst gesehen wird. Und wenn es leichtgewichtig wäre – so what? Warum darf Dylan nicht auch mal der leichten Muse frönen? Einst verlangte man Protestsongs von ihm und bis heute muss scheinbar jeder Song übervoll mit literarischen, historischen, religiösen und philosophischen Zitaten, Metaphern, Verweisen und Anspielungen sein, um überhaupt als Dylan-Song ernst genommen zu werden.
Ich gebe zu, ich habe das durchaus auch schon so gehandhabt. Während ich Dylans frühe Lovesongs wie „Love Minus Zero/ No Limit“ oder „Lay, Lady, Lay“ nie infrage gestellt habe, fand ich „Make You Feel My Love“ anfangs auch ein bisschen unter Dylan-Niveau. Die Bilder irgendwie zu einfach und vom kompositorischen zu nah an „I’ll Remember You“ vom 1985er-Album „Empire Burlesque“. Auch wenn er der kommerziell erfolgreichste Song aus Dylans Spätwerk ist, weil er u.a. von Adele, Garth Brooks und Billy Joel gecovert wurde. Das im Übrigen gerade weil er so leichtgewichtig daherkommt. Erst seine 2019er Live-Version versöhnte mich mit ihm. Denn man sollte sich auch hier von Dylan nicht täuschen lassen. Selbst vermeintlich leichtgewichtige Lyrik lässt sich von ihm mittels Vortragshaltung, Gesang und Arrangement in ganz andere Sphären überführen. Da wird die Ansage „Ich werde Dich meine Liebe fühlen lassen“ schon mal bedrohlich, und reiht sich nahtlos in seine jüngsten dunklen Umdeutungen von Songs wie „To Be Alone With You“ ein.
Furcht vor Wanderschaft und Freiheit?
Copyright: Columbia Records
Hier also das Herz, das zu Hause bleiben soll, das nicht auf Wanderschaft gehen soll, so verlockend das Ziel auch sein mag. Es wird Dylan nachgesagt, dass hinter den Kulissen er mit einigen seiner Background-Sängerinnen zwischen 1979 und 1983 oftmals mehr als befreundet war. Ob das Lied auch ein Dokument des Gefühlschaos ist? Oder fürchtet sich Dylan vor der Freiheit, die so verlockend außerhalb des abgeriegelten fundamentalistischen Gedankengebäudes wirkt?
Dylan hat den Song als festen Bestandteil seiner Konzerte das ganze Jahr 1981 gespielt. 1984 auf seiner Europa-Tour dann lediglich in Wien und Verona. 1986 spielte er es nur einmal in Wellington, Neuseeland. 1987 dann einmal in den USA und dreimal in Europa. 1989 kam es noch einmal in St. Louis zum Einsatz. Zum letzten Mal wurde „Heart Of Mine“ von Dylan vor mehr als dreißig Jahren in Toronto am 17. August 1992 gespielt. Seitdem nichts mehr.
Bestandteil des „Dylan-Lovesongs-Kanon“
Als damals 17-jährigem gefiel mir der Song. Er hat Ohrwurm-Qualitäten und eben einen recht einfachen Text, so dass ich ihn damals gerne gehört und auch mitgesungen habe, wenn ich das Album mal wieder viel zu laut daheim hörte. Und natürlich hörte ich den Song auch in Mannheim. Dylan am E-Piano war für mich überraschend, war er doch für mich ganz klar der Mann mit der Gitarre. Aber diese Performance werde ich auch nie vergessen. Denn bevor er den Song spielte, hängten ihm Helfer ein Handtuch über die Schultern. Das sah doch schon ein bisschen nach Superstar-Gehabe aus. Heute würde ich es vielleicht auch als Zitat deuten wollen. James Brown bekam während seiner Konzerte immer zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Umhang umgelegt.
So ist „Heart Of Mine” doch über die Jahre immer noch eines meiner Lieblingslieder geblieben, auch wenn es nicht zu seinen ganz großen Songs gehört. Aber auch ein Literatur-Nobelpreisträger und Song-Gigant hat das Recht auf „leichtere Kost“. Und: Er kann sie jederzeit einer Revision unterziehen. Das können und wollen die Lohnschreiber und Songinterpreten des Musikbusiness in der Regel eben nicht. Doch wie auch immer, wenn am 23. Mai die Darmstädter Americana-Reihe am Vorabend von Dylans Geburtstag die „Lovesongs Of Bob Dylan“ in den Fokus nimmt, dann steht der Song natürlich auf meiner Wunschliste.
Mit der Sommertour in Europa und dem Album „Shot Of Love“ wendet sich Dylan wieder weltlicheren Sichtweisen zu/ Neues Buchprojekt
Bob Dylan, Toronto 1980, Copyright: Wikimedia Commons
Natürlich war es für die Dylan-Welt ein Schock, als ausgerechnet der große Individualist und Verwirrkopf Bob Dylan, sich ab 1979 freiwillig in ein festes Glaubens- und Gedankengebäude einmauern ließ. Ausgerechnet einer der großen kritischen und nonkonformistischen Stimmen der westlichen Welt fügte sich voll und ganz in die fundamental-evangelikale Vineyard Fellowship ein und ordnete sein gesamtes künstlerisches Schaffen der öffentlichen Darstellung seines neu gefundenen Gottesglaubens unter. 1979 und auch zu Beginn des Jahres 1980 erklangen nur neue, religiöse Songs auf Dylans-Konzerten.
Absatzbewegungen im Frühjahr 1980
Doch Dylan wäre nicht Dylan und wäre heute wohl ein zweifelhafter Sakro-Pop-Held in der evangelikalen Szene, wenn ihm dann nicht doch irgendwann das ganze Gedanken- und Organisationsgebäude der Evangelikalen zu einengend geworden wäre. „1980…hatte er die Fesseln der evangelikalen Orthodoxie bereits gelockert mit den beiden Songs, die er in jenem Frühjahr in jedem Konzert aufführte – „Ain’t Gonna Go To Hell“ und „Cover Down“. Nun war es an der Zeit, die Fesseln vollends zu zerreißen und die Empfindungen der Vergangenheit mit seiner neugefundenen Glaubensgewissheit zu verschmelzen“, schreibt Clinton Heylin in „Dylan.Gospel. Die rauen Töne der wahren Geschichte“.
Neue Themen im Sommer
Copyright: Lippmann+Rau
Den Sommer 1980 verbringt er zu einem großen Teil in der Karibik wo er bei den Bahamas mit seinem Boot segelt. Möglichweise eine wohl kalkulierte Absatzbewegung von der Enge der Vineyard Fellowship. Dort schreibt er mit „Caribbean Wind“ eines der zentralen Werke, dass seine Abkehr vom evangelikalen Fundamentalismus und dessen engstirniger Songmoral kennzeichnet. „Ich habe damit in St. Vincent begonnen, als ich in der heißen Sonne aus einem seltsamen Traum erwachte … Ich habe aus den falschen Gründen darüber nachgedacht, mit jemandem zusammenzuleben“, sagt Dylan in einem Interview für die Album-Box Biograph von 1985 zu Cameron Crowe. Und Paul Robert Thomas schreibt auf seinem Blog dazu: „Die Synthese aus apokalyptischer Einbildung und seinem vertrauten Thema der unzufriedenen Liebe war für seine Fans ein vertrauteres Terrain als alles, was er auf seinen beiden vorherigen Alben erkundet hatte, was darauf hindeutet, dass er zumindest lernte, seine Arbeit vor „Born Again“ zu assimilieren, anstatt sie zu ignorieren.
Alte und neue Lieder nebeneinander
Und Ende 1980 geht er schließlich mit seiner Band und den Sängerinnen auf die erste Retrospective-Tour. Er mischt neue und alte Songs. Danach schreibt Dylan wieder Songs und nimmt von März bis Mai 1981 das Album „Shot Of Love“ auf. Es ist gerade, weil es so merkwürdig zweigeteilt wirkt, ein Dokument des Übergangs. Songs wie „Heart Of Mine“, der Titelsong „Shot of Love” oder das für Dylan recht luftige “Watered-Down Love” künden von seinen Gedanken rund um falsche und echte Liebe, Lügen und Begehren. Und der Song „Lenny Bruce“ zeigt auf, dass er sich wieder an seine jüdisch-intellektuellen Wurzeln besinnt. Doch ausgerechnet das oben genannte „Caribbean Wind“ nimmt er nicht auf das Album. Stattdessen sind mit „Property Of Jesus“ und „Dead Man, Dead Man“ auch hier noch selbstzufrieden-religiöse Songs mit dabei.
„Shot Of Love“ als Wendepunkt”
Copyright: Columbia Records
Aber wie auch immer: „Jedenfalls markierte ‚Shot of Love‘ Dylans ‚Wendepunkt‘, die langsame Abkehr von allzu rascher Bekehrung“, attestiert Dylan-Kenner Günter Amendt Dylans 1981er Album (in: The Never Ending Tour, Hamburg 1991, S. 42). Denn hier zeigt Dylan endlich nicht mehr die Selbstzufriedenheit und Absolutheit des Finders, sondern den Zweifel und die Zerbrechlichkeit des Suchers. Er sucht den Trost bei Gott. Gott ist seine persönliche Angelegenheit. Dylan will uns hier nicht mehr missionieren. Das spürt man in seinem schönsten christlichen Song „Every Grain Of Sand“. Und das ist allemal besser, als der Duktus „Ich habe Gott gefunden und wenn Du das nicht auch tust, wird es Dir schlecht ergehen“ seiner vorangegangen Platte, und leider auch noch der Hälfte von „Shot Of Love“. Dylan wendet sich nun wieder anderen Geisteshaltungen zu, scheint sich wieder kritisch mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen und entdeckt seine Empathie für die Menschen wieder.
Neues Buch im Laufe des Jahres
Mit dieser Haltung geht er dann auf seine nächste Tour, die ihn nach ein paar Warm Up-Gigs in den Staaten, dann im Juni und Juli 1981 nach Europa und schließlich auch nach Deutschland führt. Was er da so spielte, mit welcher Haltung und künstlerischer Ambition er da auftrat, wie Fritz Rau das alles organisierte, wie man ihn hierzulande aufnahm und rezipierte – all das das wird Thema meines neuen Dylan-Buches über die Deutschland-Tour 1981 sein, das im Laufe des Jahres erscheinen soll. Seid gespannt!
10 Jahre Americana in Darmstadt, neues Buchprojekt, Reise in die USA und was macht eigentlich Bob Dylan? 2024 wird aus vielerlei Gründen ein spannendes Jahr
Thomas Waldherr blickt voraus auf ein spannendes Jahr, Foto: Americana
Die Stimmung im Land könnte schlechter nicht sein. Ein eigentlich von vorne herein mühsam gedrechselte Ampel-Koalition hat einfach keine gemeinsame gesellschaftliche Perspektive – im Gegenteil, die FDP steht in allen Zukunftsfragen den Partnern inhaltlich völlig entgegen – und bringt mit Kanzler-Scholzomat an der Spitze alle gegen sich auf. Und stärkt die AfD immer mehr, die Republik könnte am Ende des Jahres eine andere sein.
Die Stimmung in den USA könnte schlechter nicht sein. Der Kulturkampf tobt aller Orten und der zu alte demokratische Präsident wirkt leider weniger vital als der orangene Widersacher, der zusammen mit seiner Partei die amerikanische Demokratie gefährdet. Der Ausgang der Wahlen im November und die Folgen sind ungewisser denn je. Die USA könnte ein anderes Land werden.
Trotz alledem: Das „andere“ Amerika vermitteln
Und dennoch: Ich bleibe dabei, dass Deutschland und die USA einen neuen New Deal brauchen. In Deutschland mit dem Abschied von der Schuldenbremse und mit einer der höheren Besteuerung der Besserverdienenden, Millionenerben, Reichen, Superreichen, damit sie endlich ihren solidarischen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Damit der Staat in öffentliche Infrastruktur, Bildung, Gesundheit, Digitalisierung, den ländlichen Raum und soziale Gerechtigkeit im gesamten Land investieren kann. Das wäre auch die beste antifaschistische Politik.
Und dennoch: Ich bleibe dabei, mich mit Amerika, seiner Kultur und seiner Musik zu beschäftigen. Amerikanische Tradition ist nicht nur Egoismus, Ausgrenzung, ungezügeltes Kapital und Kulturkampf. Von Walt Whitman über Mark Twain und Upton Sinclair bis zu Woody Guthrie, Pete Seeger, Joan Baez und Bob Dylan gibt es amerikanische Traditionslinien, die Vielfalt, Respekt, Toleranz, Gemeinsinn und Demokratie zum Inhalt haben. Das ist das „andere“ Amerika. Das will ich weiterhin mit Publikationen, Konzerten und Seminaren & Vorträgen vermitteln.
10 Jahre Americana in Darmstadt
Daher werden drei Aktivitäten dieses Jahr für mich entscheidend prägen. Seit 10 Jahren kuratiere ich die Darmstädter Americana-Reihe. Mit einer Reihe von Premieren im ersten Halbjahr und einer großen Jubiläumsgala mit Freunden und Weggefährten im Herbst möchte ich dieses Jubiläum würdig begehen. Die Reihe ist zu einer echten Marke in Darmstadt und Rhein-Main geworden. Darauf bin ich schon stolz. Auch wenn jedes Konzert Kraft kostet, besonders um Menschen dafür zu gewinnen, sich auf das Live-Erlebnis einzulassen. Um so schöner ist es, wenn das Programm gefällt und Publikum und Künstler:innen zusammen einen schönen Abend haben und nach dem Konzert sich noch anregende Gespräche ergeben. Daraus ziehe ich dann die Kraft für die nächsten Konzerte und mache immer weiter damit. Ende nicht absehbar. Infos und Tickets zu den Konzerten: http://www.knabenschule.de .
Reise in die USA
Im April werden wir erstmals seit 2019 wieder durch die USA reisen. Diesmal allerdings ohne Stationen im Deep South. Uns steht derzeit nicht der Sinn nach langen Autofahrten und Small Towns in den Südstaaten. Wir gehen vor den US-Wahlen bewusst auf die Spurensuche der progressiven amerikanischen Traditionslinien. Wir werden uns in New York City mit dem Thema Einwanderung (Ellis Island), afroamerikanischer Kultur (Harlem, Apollo Theater) und den Spuren von Bob Dylan und Woody Guthrie im „Big Apple“ beschäftigen.
Wir werden Letztere in Tulsa, Oklahoma, „wieder treffen“, wenn wir dort erstmals den Bob Dylan Center und ein zweites Mal den Woody Guthrie Center besuchen. Aber auch das Tulsa-Massaker von 1921 und die Morde im Osage County (siehe Scorseses Meisterwerk „Killers Of The Flower Moon“: https://cowboyband.blog/2023/10/29/die-um-das-olgeld-tanzen/) werden auf unserer Agenda stehen.
Und unsere dritte und letzte Station wird dann Woodstock, NY, sein. Und das weniger wegen des legendären Festivals, das gar nicht dort, sondern im 70 Meilen entfernten Bethel stattgefunden hat, sondern es seit jeher als Künstlerkolonie für das progressive Amerika steht. Dort hat Bob Dylan gewohnt und dort im legendären Big Pink haben er und „The Band Musikgeschichte“ geschrieben. Klar, dass wir das aufsuchen werden. Daneben haben Woodstock und die angrenzenden Orte eine hohe dichte an Musiklocations. So wie beispielsweise die Levon Helm Studios und das Bearsville Theater. Den ersten Musikevent haben wir schon gebucht. Am 14. April werden wir im nur 30 Autominuten entfernten Kingston die Old Crow Medicine Show sehen. Da die Jungs selten nach Europa und leider schon gar nicht nach Deutschland kommen, werden wir sie nach Amsterdam 2017 erst das zweite Mal sehen. Mal schauen, was wir in NYC, Tulsa und Woodstock noch an Konzerten sehen können.
Neues Buchprojekt
Und dann steht ein neues Buchprojekt an. Nachdem ich die Wurzeln von Bob Dylan in der Countrymusik und in der Musik der Black Community erforscht habe, möchte ich diesmal meine eigene Dylan-Geschichte mit der Zeitgeschichte verknüpfen. Es geht um Dylans Deutschland-Tour 1981. Da habe ich mein erstes Dylan-Konzert in Mannheim gesehen. Das war die Zeit der Rückkehr von Dylan aus bornierter Frömmelei hin zur Weltoffenheit früherer Tage. Die Setlists waren eine Mischung aus alten Songs, religiösen Songs und dem neuen, durchaus schon weltlicheren Material seines neuen Albums „Shot Of Love“. Ich werde den Zeithintergrund beleuchten, die künstlerische Situation Dylans 1981 schildern, an mein eigenes Konzerterlebnis erinnern und anhand der Recherchen im Lippmann+Rau-Musikarchiv (vielen Dank an meinen Freund und „Key West“-Mitherausgeber Richard Limbert!), damaligen Presseberichten und Zeitzeugen eine Chronik und Bewertung dieser Tour vornehmen.
Was macht Bob Dylan 2024?
Also schon einiges los in diesem Jahr. Und dazu noch die Fragen nach neuen Dylan-Konzertterminen oder gar einem neuen Album. Da wird wieder einmal an die Wand gemalt, dass Bob Dylan sich zur Ruhe setzen könnte. Ja, das könnte kommen, aber bestimmt nicht vor Ende der „Rough And Rowdy Ways Tour 2021-2024“. Einmal noch Dylan in Deutschland sehen, das sollte klappen. Ein neues Album? In den Dylan-Foren wird nach Hinweisen wie angeblichen Studiozeiten hier und dort geforscht, anonyme Quellen bemüht und und und. Dabei wissen wir doch: Am schönsten ist es doch, wenn uns der alte Verwirrkopf auf dem falschen Fuß erwischt und uns alle mit Neuigkeiten verblüfft, die wir nicht in der Lage waren, vorherzusehen. Ich denke da beispielsweise an die überraschende Veröffentlichung von „Murder Most Foul“.
Also bleiben wir gespannt und mein Americana-jahr 2024 wird eines der spannendsten werden, ganz getreu dem alten Motto „Keep On Keeping On!“
„Lola“ von Andrew Legge ist ein faszinierender, vielschichtiger Film, gespickt mit Zitaten aus der Popkultur
Copyright:Signature Entertainment
Der Film „Lola“ ist das sehr gelungene vielschichtige Spielfilm-Debüt des Iren Andrew Legge. Der Film hat Kultpotential, denn er ist ein wahres Eldorado für Filmliebhaber. Er hat mit Martha „Mars“ und Thomasina „Thom“ Hanbury eines der hinreißendsten und interessantesten Schwesternpaare der Filmgeschichte. Er erzählt eine großartige, packende Geschichte vom „in-die-Zukunft-schauen-und-sie-beeinflussen-können“ und ist gespickt mit Popkulturzitaten.
Die Zukunft verändern
„Lola“ ist die Maschine mit der man Film, Funk- und Fernsehschnipsel aus der Zukunft empfangen kann. Ihr Name ist eine Referenz von Legge an all die anderen Lolas der Popkulturgeschichte: Der „Lola“ Marlene Dietrichs aus „Der blaue Engel“, der „Lola“ der „Kinks“ oder Tom Tykwers „Lola rennt“. Thom und Mars, die frühe ihre fortschrittlichen Eltern verloren haben, haben die Maschine erfunden. Dient sie im Jahr 1941 zuerst kulturellen Ausflügen in die Zukunft– die Schwestern begeistern sich für Bob Dylan, David Bowie und „The Kinks“ – nutzen die beiden später die Maschine für den britischen Geheimdienst im Kampf gegen die deutschen Aggressoren im zweiten Weltkrieg. Erst beeinflussen sie den Kriegsverlauf positiv im Sinne der Briten, dann gehen sie einer deutschen Täuschung auf den Leim. Es kommt zu einer Kette von dramatischen Ereignissen. Die beiden werden zum Tode verurteilt, Thom wird zu Nazi-Kollaborateurin, Mars geht mit ihrem Freund in den Widerstand. Großbritannien wird eine faschistische Diktatur und statt David Bowie steht ein brachialer Sänger mit „The Sound Of Marching Feet“ in den Popcharts.
Mehrere Bob Dylan-Referenzen
Regisseur Andrew Legge hat den dystopischen Film bewusst als „Found Footage Film“ konzipiert. Er ist in Schwarz-Weiß gehalten, und „Wackel-Kamera“-Bilder sind kunstvoll verwoben mit Original-Wochenschau-Bildern der 1940er Jahre. Während Thom die technische Erfinderin ist, hat Mars eine kreative Ader. Die filmt ständig, begeistert sich für Musik und komponiert Song im Bob Dylan-Stil.
Dass mit Bowie und Dylan ausgerechnet die beiden größten Chamäleons der Musikgeschichte im Film ihren Platz haben, passt natürlich ganz genau in diese Geschichte um Veränderungen und das Eingreifen in die Geschichte. Und sicher hat Andrew Legge auch die Direct Cinema-Filme eine D.A. Pennebaker gesehen, dessen „Don’t Look Back“ die England-Tour von Bob Dylan 1965 filmisch verarbeitet hat. Denn dessen Filmweise und Ästhetik sind durchaus verwandt mit diesem Found Footage Film.
Beachtenswertes Spielfilm-Debüt
Die Geschichte ist packend erzählt, atemlos verfolgt man die immer tragischeren Ereignisse. So vergehen die gerade mal 79 Minuten wie im Flug und man möchte sich den Film am liebsten gleich nochmal ansehen, so viel steckt in ihm. Ein beachtenswertes Debüt von Andrew Legge. Wir sind gespannt, was von ihm noch kommen wird.
Die 1974er Comeback-Tour war für den legendären Musiker ein großer Erfolg in Sachen Publikumsbindung und Einnahmen. Künstlerisch bewertete er das Ereignis eher kritisch
Bob Dylan & The Band 1974, Copyright: Wikimedia Commons
Die Comeback-Tour von Bob Dylan im Januar und Februar 1974 war seine triumphale Rückkehr nach acht Jahren Tourpause. Seine letzte Tour war die Welttour 1966, die er mit den damals noch unbekannten „Hawks“, aus der später „The Band“ werden sollten, absolviert hatte. In der Zwischenzeit hatte Dylan nur noch sporadisch in der Öffentlichkeit musiziert, wie 1968 beim Tribute für den verstorbenen Woody Guthrie, 1969 beim Festival auf Isle of Wight oder 1971 bei George Harrisons „Concert für Bangladesh“. Seine Bedeutung für seine Generation und sein Mysterium wuchsen trotzdem oder gerade deswegen immer mehr. Währenddessen wurden „The Band“ zu einer der stilbildenden und erfolgreichsten amerikanischen Rockgruppen ihrer Zeit.
Der große Dylan-Hype
Die Nachricht, dass beide Acts nun wieder zusammen auf Tour gingen, schlug ein wie eine Bombe. Die Nachfrage war immens, der Hype in Publikum und Medien für die damalige Zeit fast beispiellos. Am Ende waren alle 40 Konzerte, die zwischen dem 3. Januar und 14. Februar stattfanden – teilweise wurden zwei Shows an einem Tag gespielt – restlos ausverkauft.
Die Shows hatten ein Standardformat: Ein Eröffnungsset mit sechs Liedern von Dylan mit Band, dann ein Set mit fünf Liedern von The Band, darauf folgten drei weitere Dylan & The Band-Auftritte, dann spielte Dylan ein Akustikset mit fünf Liedern, ein drei bis vier Lieder umfassendes Set von The Band und am Ende ein gemeinsames Finale. Das Publikum war hingerissen, da es alle die Songs hören konnte, die es schon so lange von Dylan nicht mehr gehört hatte: „Like A Rolling Stone“, „It Ain’t Me Babe“, „Just Like A Woman“, „Don’t Think Twice, It’s Alright“ usw. Und dazu noch der aktuelle Hit „Knockin‘ On Heaven‘s Door“ aus dem im Juli 1973 erschienenen Film „Pat Garrett & Billy The Kid“.
Die Stimmung der Konzerte gibt der am 20. Juni veröffentlichte Live-Mitschnitt sehr gut wieder. Die Begeisterung des Publikums war riesig, die Leute waren förmlich elektrisiert. Und als Dylan die plötzlich inmitten der Watergate-Affäre so aktuell gewordenen Zeilen „But even the president of the United States must have to stand naked“ aus „It’s Alright Ma“ sang, die da war der Jubel groß. Ein Moment für die Ewigkeit. Die älter gewordene Protestgeneration noch einmal ganz fest vereint mit ihrer musikalischen Leitfigur, der mittlerweile den Messias-Rang eingenommen hatte. In der Zukunft sollte das nicht mehr so oft passieren.
Dylan hatte die Dylan-Maske auf
Innenseite der LP „Before The Flood“, Copyright: Sony Music
Aber hier hatte Dylan ja auch seine Bob Dylan-Maske aufgesetzt und seine Stadion-Stimme für die großen Sporthallen intoniert. Die Musik mit The Band war druckvoll, dynamisch, mitreißend. Dylans Soli waren schnell und hart gespielt und zornig herausgeschrien. Ein großes Dylan-Fest. Alle waren am Ende zufrieden mit der Rückkehr Dylans. Nur Dylan und die Jungs von The Band nicht. Levon Helm erinnerte sich später: „Manchmal hatte ich das komische Gefühl, dass wir die Rollen von Bob Dylan und The Band spielten und das Publikum dafür bezahlte, um zu sehen, was es vor vielen Jahren verpasst hatte.“ Auch Dylan hatte Probleme mit der Rolle, die er in dieser Tour spielte, und sagte nachdenklich 1980 in einem Interview: „Als Elvis 1955 ‚That’s All Right, Mama‘ spielte, war es Sensibilität und Kraft. 1969 war es einfach pure Kraft. Dahinter steckte nichts anderes als nur Gewalt. Ich bin auch in diese Falle getappt. Nehmen Sie die Tour von 1974. Es ist ein sehr schmaler Grat, den man beschreiten muss, um mit etwas in Kontakt zu bleiben, wenn man es einmal erschaffen hat … Entweder es hält einem stand oder nicht.“
Dylan hatte gemerkt wie äußerlich ihm diese Konzerte wurden. Hatte er anfangs noch einige Songs seiner aktuellen Platte „Planet Waves“ gespielt, so blieb davon mit der Zeit nur noch das heute sich im Klassiker-Status befindliche „Forever Young“ übrig. Es war die letzte Aufführung des 1960er-Dylans.
Danach: Dylans ständige Neuerfindungen
Fortan sollte Dylan immer wieder versuchen, dieser Bob Dylan-Rolle zu entfliehen, und sich und seine Songs bei seinen Konzerten immer wieder neu erfinden. Entweder mit neuem Material und einer neuen Bühnenpersönlichkeit versehen wie bei der Rolling Thunder Review 1975/76 oder auch bei seinem aktuellen Rough & Rowdy Ways-Bühnenprogramm. Oder wenn schon retrospektiv, dann aber völlig auf links gedreht wie 1978 oder auf den Konzerten der sogenannten „Never Ending Tour“ seit 1989. Und doch bleibt diese Tour und ihr Mitschnitt „Before The Flood“ ein wichtiges Zeitdokument, das man auch heute immer noch gerne hört.
Schon seit ein paar Jahren gibt es die Band „Masterpeace“, nun hat sie ein Album mit elf Dylan-Songs herausgebracht
Copyright: Buschfunk
Der erste Eindruck ist der wichtigste. Ja, die Songs kenne ich, aber nicht so. Die neuen Versionen sind hörenswert. Die Platte heißt „The Dylan Project“. Elf Songs von Bob Dylan, neu interpretiert von der Band „Masterpeace“, die seit 2016 besteht. Gewidmet ist das Album dem Bandmitglied Kuma Harada, der im März 2023 starb und hier mit seinen letzten Aufnahmen zu hören ist.
Auffällig und wohltuend ist, dass der Gesangspart hier von einer Frau übernommen wird. Und die in keinster Weise in Versuchung gerät, den Dylan’schen Gesang imitieren oder kopieren zu wollen. Im Gegenteil: Steffi Breitings warmer und kraftvoller Gesang gibt den Songs eine ganz neue Note.
Auch die Arrangements tun dies immer wieder „New Morning“ läuft fröhlich tuckernd und kraftvoller als im Original an. Die Version von „All Along The Watchtower“ baut musikalisch geschickt, die klaustrophobische Anspannung auf. Das weniger bekannte „Love Minus Zero“ kommt ganz als fröhliches Liebeslied, während die Sixties-Hymne „The Times They Are A-Changing“ in nachdenklich-verhaltenem Sound daherkommt, als trage es all die gesellschaftlichen Niederlagen in sich. Kein Wunder, denn die Zeiten drehen sich gerade bedrohlich zurück.
„License To Kill“ ist dann wieder schnörkellos anklagend, gegen Gewalt und Krieg kann man nicht genug ansingen. „Watching The River Flow“ ist der einzige Song, der nicht von Steffi Breiting gesungen wird. Tobias Hillig macht aus dem Song einen Tagtraum, ehe als letzter Song „Masters Of War“ mit Hubschraubertönen und Marschtrommel sehr eindringlich intoniert wird.
So vergeht das Hören dieses starken Rock-Albums wie im Flug. Musikalisch ist das Ganze eindeutig oberes Regal, alle Musiker sind erfolgreiche Live- und Studiomusiker, u.a. für Mitch Ryder und Mick Taylor. Ein schönes Album, das uns das Warten auf neue Musik des Meisters versüßen wird.
Amanda Petrusichs Buch „Um keinen Preis verkaufen“ ist eine abenteuerliche Reise in die Welt der 78er-Sammler und dabei stets erhellend und humorvoll
Copyright: Matthes & Seitz
Amanda Petrusich erzählt eine auf mehreren Ebenen spannende Geschichte. Es geht um die frühen Blues-, Country-, Jazz- und Gospelaufnahmen in den USA. Grundsätzlich positiv: Die Aufnahmen auf 78er Schellackplatten wäre heute längst vergessen, wenn es nicht Männer – ja vor allem Männer! – gegeben hätte, die diese sammelten. Sprich: Mit Jagdtrieb und Sammelleidenschaft ausgestattete, manchmal recht schräge Vögel, die es sich zum Lebensinhalt gemacht hatten, möglichst viele, seltene und wertvolle 78er-Platten zu besitzen. Warum das auch seine ambivalenten Seiten hat und trotzdem für die amerikanische Musikgeschichtsschreibung so wichtig war, davon erzählt Petrusich in ihrem Buch.
Mehr als eine Geschichte über das Sammeln
Das Schöne an diesem Buch ist die Begeisterung Petrusichs (Jahrgang 1980) für ihre Forschungsgegenstände. Sie nimmt Kontakt zur heutigen Sammlerszene auf, taucht in sie ein und gewinnt Einsichten darüber, wie diese Leute ticken, was sie antreibt. Dadurch erfährt sie viel über die frühen Schellacks und ihre Sammler. Ihre Begeisterung geht sogar so weit, dass sie extra einen Tauchgang einlegt, um verlorene 78er aus einem Fluss zu bergen. Was natürlich schief geht. Diese Abschnitte oder die teils obskuren persönlichen Begegnungen mit Sammlern wie Joe Bussard sind spannend und humorvoll geschrieben.
Gleichzeitig erzählt sie die Geschichte von Tonträgerfirmen wie Paramount Records, die Aufnahmen mit Bluessängern wie Charlie Patton machten. In einem Zeitfenster von Mitte/Ende der 1920er bis zur vollen Entfaltung der Great Depression Mitte der 1930er Jahre, sorgten Firmen wie Paramount dafür, dass schwarze und weiße Hillbillymusik auf 78er gebannt wurde. Als es aufgrund der Wirtschaftskrise keine Käufer mehr für die Platten gab, verschwanden diese Labels wieder. Die Sammler sorgten dafür, dass Restbestände nicht vernichtet und verloren geglaubte Aufnahmen wiedergefunden wurden.
Die „Bluesmafia“ legt den Kanon fest
Die vornehmlich weißen Sammler sorgten gleichzeitig auch für eine kritisch zu hinterfragende Kanonisierung des Blues. Ihr Augenmerk lag auf den seltenen, obskuren Platten. So waren in ihren Augen Musiker wie Skip James, der in der Blütezeit des frühen Bluesbusiness den schwarzen Käufern kaum bekannt war, interessanter, als die kommerziell erfolgreicheren Barbecue Bob oder Tampa Red. Die Geschichtsschreibung des Blues als eine Musik, die von einsamen Bluesmen gespielt wurde, geht auf ihr Wirken zurück. Petrusich nennt diese Kanonbildner die „Bluesmafia“. Denn die Bluesmusiker waren alles andere als einsam, sondern waren zu ihrer Zeit Gebrauchs- und Profimusiker, die auch Blues, aber nicht nur Blues spielten. Sie spielten zu Tanzabenden, Hochzeiten und anderen gesellschaftlichen Anlässen.
Die oftmals wunderlichen Sammler-Einzelgänger gaben aber ihre Sichtweise vor und trafen damit auch den Nerv der antikommerziellen, kritischen Folk-Revival-Szene der späten 1950er und frühen 1960er Jahre. Bekanntestes, weil differenziert und ambitioniert ausgelegt, Sammlerprojekt ist die legendäre „Anthology Of American Folk Music“ von Harry Smith, die 1956? erschienen, eine ganze Generation, nämlich die von Bob Dylan und Joan Baez beeinflusste.
Neben der ausführlichen Darstellung dieser Sammlung, wird eine weitere, erst vor wenigen Jahren erschienene Zusammenstellung ausdrücklich erwähnt. „Work Hard, Play Hard, Pray Hard“ ist aus der Kollektion des Sammlers Dan Whale zusammengestellt worden und enthält rurale Populärmusik aus den Jahren 1923 bis 1936. Hier wird der Akzent richtigerweise auf Musiker und Publikum als sozial verschränkte und vernetzte Akteure gelegt. Denn das war der Dreiklang der ländlichen Südstaaten. Unter der Woche wird hart gearbeitet, samstagabends groß gefeiert und am Sonntag geht es in die Kirche.
Musik sammeln als männliche Domäne
Zwar begegnet Petrusich auch einer Sammlerin, aber der Rest sind Männer. Sehr männliche Männer, die besitzen wollen und im ständigen Wettbewerb stehen. Wenn sich Freundschaften ergeben, dann nur über die geteilte Freude des Wissens über Schallplatten und Aufnahmen. Das korrespondiert mit der Einsicht von Rolling Stone-Journalist Maik Brüggemeyer, der kürzlich im Interview Klaus Walter erzählte, dass die hauptsächlich männlichen „Dylanologen“ mit anderen Männern halt lieber über Sachthemen sprechen würden, als über sich selbst. „Sie reden lieber über Fußball und Bob Dylan“, so Brüggemeyer. Auch wenn bei Dylan-Fanzusammenkünften auch eine gewisse Anzahl von Frauen dabei sind, ist es schon richtig, dass Männer in der Überzahl sind. Zumindest in den Dylan-Fankreisen, die Konzerte und Aufnahmen sammeln. Unter denen, die sich grundlegend wissenschaftlich oder journalistisch mit Dylan auseinander setzen sind mit Anne-Marie Mai oder Laura Tenschert auch zunehmend weibliche Fachleute.
Petrusich hat ein kluges Bucher über männliche Sammler und männliche Musikgeschichtsschreibung vorlegt. Ihre eigene weibliche Perspektive kontrastiert sie auf lesenswerte Weise mit dieser Welt. Warum aber ihre wundervolle facettenreiche Erzählung mit zwei dagegen recht flach daherkommenden Texten von älteren weißen Männern und Sammlern – wobei der eine gar keine Musik sammelt! – eingerahmt wird, bleibt das Geheimnis des Verlags.
Amanda Petrusich, Um keinen Preis verkaufen: Die wilde Jagd nach den rarsten 78ern und die Suche nach der Seele Amerikas, Berlin 2023, 329 Seiten, 25 Euro.
Die Texte der von Günter Ramsauer herausgegebenen Anthologie erzählen spannend, informativ, vergnüglich und durchaus ausladend über Popmusik und ihre kulturellen Kontexte. Immer dabei: Bob Dylan.
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Es gibt ja Leute, die finden es schlicht überflüssig, sich über Popmusik Gedanken zu machen. Bei anderen erschöpfen sich die Betrachtungen in Hitparaden-Historie und trivialen Promigeschichten. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Popmusik und ihren kulturellen Kontexten, gesellschaftlichen Hintergründen und politischen Bezügen hat gerade in Deutschland Seltenheitswert. Umso schöner, wenn Ramsauer und seine Mitautoren mit diesem Buch intelligenten Lese- und Nachdenkstoff zum Thema Popmusik liefern. Die Beiträge gehorchen keiner strengen inhaltlichen Vorgabe. Sie sind sachlich und voll vor prallen Informationen und schaffen somit großartiges Kaleidoskop der musikalischen Verknüpfungen vor dem Hintergrund musikalischer Sozialisationen.
Heino Walter: Parforceritt durch die Popmusik
So wie Heino Walter, der in einem Parforceritt durch die Popmusikgeschichte ein Füllhorn voller musikalischer Einflüsse, Plagiaten, Imitationen und Referenzen ausgießt und auch das Thema KI in der Musik angemessen behandelt . Neben manchem, das man kennt, gibt es auch zig Verweise auf weniger bekanntes. Beispielhaft sei hier Daniel Romano und dessen ständige Wandlungen erwähnt. dem musikalischen Chamäleon, den wir als Bandleader für Wanda Jackson 2012 in Dallas erleben durften. Damals trat seine Country-Inkarnation auf. Für uns nicht so recht wichtig, wurden wir aber dann mit seiner „Infidels by Bob Dylan & The Plugz“ hellhörig. Apropos Bob Dylan: Obwohl er in diesem Kontext seine Erwähnung findet, wird er im großen Stil hier nicht bearbeitet. Und das, obwohl Dylan eigentlich eines der großen Chamäleons der Popmusikgeschichte ist und er sich noch dazu von der Übernahme mancher Melodie bis zu seiner Collagentechnik im Songwriting in seiner ganzen Karriere den Angriffen von Plagiatsjägern ausgesetzt war. Diese haben aber weder den Entstehungsprozess eines Folksongs, noch seine große Kunst aus der Art der Zusammenstellung von Zitaten ein neues, eigenes Kunstwerk zu schaffen, verstanden.
Christian Anger: Musik erweitert den Horizont
Auf Walters Beitrag folgt im Buch ein Aufsatz von Christian Anger. Er erzählt von seiner musikalischen Sozialisation in den 90er Jahren im Westerzgebirge. Einmal mehr der Beweis, dass Musik in beengten Verhältnissen den Horizont erweitert und wie wichtig gute Freunde – wie Michi, dem Dylan- und Beatles-Fan – wichtige Instanzen der eigenen musikalischen Sozialisation sind.
Michael Moravek: Dylan, die Waterboys und die Jugend in einer schwäbischen Kleinstadt
Michael Moravek, Foto: Hans Bürkle
Nach dem Feuerwerk der Verknüpfungen und den vielen musikalischen Verweise auf engem Raum der ersten beiden Beiträge, erzielen Michael Moraveks drei Aufsätze dann eine wohltuende beruhigende Wirkung. Im ersten erzählt er von seiner Zeit beim Bob Dylan-Festival in Moville, Irland. Humor- und respektvoll den Menschen dort gegenüber, schildert er wie und warum der kleine Ort zum Epizentrum der Dylan-Freunde auf der grünen Insel geworden ist. Im zweiten Beitrag erzählt er mit einer faszinierenden Sprache, die gleichzeitig lakonisch wie phantasievoll ist, wie ein Song ein ganzes Leben hindurch sich entwickelt bis er eines Tages dann endlich voll da ist. Und im dritten Beitrag kommt Moravek auf seine beiden prägenden musikalischen Einflüsse Bob Dylan und die Waterboys zu sprechen. Wie er uns darstellt, wie er erst die Musik Dylans in der Kleinstadt zwischen Schwäbischer Alb und Schwarzwald entdeckt, ist große Erinnerungskunst und holt uns unmittelbar ab. Dann entdeckt er die Waterboys, die selber wieder einen Dylan-Bezug haben und er hat seinen inneren Kompass als Künstler gefunden. Faszinierend.
Martin Feucht: Popmusikgeschichte der bundesdeutschen Linken
Nach dieser Art Slowtempo-Song von Moravek mit packender Melodie in der Mitte des Buches wird die Geschwindigkeit bei Martin Feucht wieder schneller. Seine autofiktionalen Skizzen, Anekdoten und Geschichten seiner Generation, die zurück bis in die 1960er Jahre reichen sind im Grunde eine soziokulturelle Geschichte der Linken in der bundesdeutschen Provinz. Und es treten wirklich alle auf: Von Degenhardt bis Dylan. Von Schüler und Studentenprotest bis zu DKP und K-Gruppen und alles immer wieder darauf bezogen, welche Musik von wem zu welcher Zeit gehört wurde. Heute nicht mehr vorstellbare Kneipen, Typen und Konflikte bevölkern Feuchts mitreißende Erzählungen.
Günter Ramsauer: Popkultur von Old Shatterhand bis Allen Ginsberg
Günter Ramsauer, Copyright: truth & lies press
Acht Texte steuert Herausgeber Günter Ramsauer zu diesem Buch bei. Die Sprache ist bestens geschult an den Beatniks und die Stücke haben teils lautmalerische Titel wie Rrraow, Aaaaahhh, Päng oder Ahuuh. Und so erzählt er ebenso viel Autobiographisches und verwebt es gekonnt mit der Popkultur der vergangenen Jahrzehnte. Von den „Old Shatterhand“ und den „Rauchenden Colts“ (Marshal Dillon!) über die WM 1974 bis zu JFKs Ermordung, Allen Ginsberg und Dylans „Murder Most Foul“. Ein würdiger Abschluss eines Buches, das man mehrmals lesen muss, um all die vielen Details und Verästelungen wahrzunehmen.
Fazit: Eine grandiose, funkensprühende Komposition. Ein Buch, das so vieles beinhaltet, das jeden bewegt, der sich etwas tiefergehender mit Musik beschäftigt. Manchmal ist es vielleicht zu viel der Fülle von Wissen über Bands und Songs. Aber das wäre zu viel Krittelei angesichts der lesenswerten Perspektiven auf Popmusik und deren persönlichen Rezeptionen, die vielen neu und gleichzeitig gut bekannt sein dürften: Weil sie etwas mit uns selbst zu tun haben.
Günter Ramsauer (Hg.), Heino Walter, Christian Anger, Michael Moravek, Martin Feucht, Pop steht Kopf, Esslingen 2023. 15,99 Euro im Buchhandel.
Die Singer-Songwriterin spielt das „Manchester Free Trade Hall -Konzert“ in der Royal Albert Hall nach und schafft damit etwas ganz besonderes und eigenes
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Am kommenden Freitag (10. November) erscheint der Mitschnitt eines der ungewöhnlichsten Konzerte der letzten Jahre. Denn die US-amerikanische Singer-Songwriterin Cat Power alias Chan Marshall hat vor fast genau einem Jahr eine Song-für-Song-Neuauflage eines der legendärsten und wichtigsten Live-Konzerte in der Geschichte der populären Musik gegeben. Im Mai 1966 fand Bob Dylans Konzert in der Manchester Free Trade Hall statt, das aufgrund eines falsch beschrifteten Bootlegs lange Zeit als „Royal Albert Hall Concert“ bekannt war. Bei dem Originalauftritt wechselte Dylan in der Mitte der Show von der akustischen zur elektrischen Version, was den Zorn so mancher Folk-Puristen auf sich zog, die seinen schon im Juli 1965 in Newport vollzogenen Schwenk zum Folk-Rock weder verstanden noch goutierten.
Jedes Konzert ein Kampf mit dem Publikum
Alle Konzerte Dylans in den Jahren 1965/66 wurden aufgrund dessen zu Unruheorten. Es standen sich gegenüber: Ein Künstler, der seine neue Ausdrucksform gefunden hatte und ein Publikum, dass dies dem Künstler nicht gönnte, weil es ein anderes ästhetisches und inhaltliches Empfinden hatte als dieser. Die Konzerte wurden teilweise zu einem abendlichen Kampf und so nervenaufreibend, dass es sogar Schlagzeuger Levon Helm zu viel wurde und er den Dienst quittierte. Alles gipfelte schließlich an jenem Frühjahrsabend, als einer aus dem Publikum zu Dylan „Judas!“ rief und Dylan darauf entgegnete „I don’t believe you, you are a liar“, um sich dann mit dem Ausruf „Play it fucking loud“ in eine majestätische Versino von „Like A Rolling Stone“ zu stürzen.
Den Lauf der Rockgeschichte haben die Kritiker nicht aufhalten können. Im Gegenteil, die Rockmusik löste den Folk als Musik einer kritischen Generation ab und Dylan brachte der oftmals trivialen Rockmusik Poesie und kritische Texte bei. Die Konzerte jedoch, die Dylan 1966 spielte gehören bis heute zum Besten, was er je auf die Bühne gebracht hat. Die akustischen Songs hatten durch seine Performance etwas Magisches. Eine Intensität, der man sich nicht entziehen kann. Und die elektrisch verstärkten Songs waren voller Dynamik, Spielfreude und Hingabe. Es waren musikalische Sternstunden. Zusammen mit der Anspannung von Teilen des Publikums ergaben sich knisternde Live-Momente, wie man sie nachher selten noch gehört hat.
Cat Powers Verehrung für Bob Dylan
Dieses Konzert von 1966 also brachte Cat Power im November 2022 auf die Bühne der Royal Albert Hall. Als Songwriterin hat Marshall eine besonders starke Affinität zu dem Songwriter-Übervater, den sie als „Gott Dylan“ bezeichnet. Wie bei dem Original-Konzert spielte sie die erste Hälfte ihres Sets komplett akustisch, um dann in der zweiten Hälfte mit Hilfe einer kompletten Band elektrisch zu spielen: Gitarrist Arsun Sorrenti, Bassist Erik Paparozzi, die Multiinstrumentalisten Aaron Embry (Mundharmonika, Klavier) und Jordan Summers (Orgel, Wurlitzer) sowie Schlagzeuger Josh Adams.
Sicher ist die Konzert-Situation, die Erwartungshaltung des Publikums heute eine ganz andere. Die Schlachten sind geschlagen. Wie es Cat Power hier aber dennoch gelingt, ein knisterndes und spannendes Konzert zu spielen, bezeugt ihre Ausnahmestellung. Das Ganze hätte auch ein lauwarmer, erinnerungsseliger Nostalgie-Tripp werden können. Im Gegenteil: Sie spielt die Songs so, als wären sie gerade erst entstanden. Sie eignet sie sich an. Obwohl sie musikalisch nicht sehr vom Original entfernt sind, wirken sie frisch und anarchisch und dynamisch. Marshall lebt jede Zeile aus, geht in den Liedern auf. Sie liebt diese Musik und sie lebt für diese Musik.
Weibliche Perspektive der Dylan-Songs
Natürlich wird auch seitens des Publikums eine Anspielung auf den berühmtesten Moment des Originalkonzerts nicht ausgelassen. So ruft ein Zuschauer kurz vor „Ballad of a Thin Man“ „Judas!“, woraufhin Marshall gelassen den Namen Jesus ausruft. Und tatsächlich war Dylan ja für einige Leute damals wirklich so etwas wie ein in Ungnade gefallener Messias.
Eine große Leistung Marshalls ist es den Songs eine weibliche Perspektive zu geben, nur so kann sie glaubwürdig die Songs spielen, können sie etwas mit Ihr zu tun haben. Alles andere wäre eine Nummernrevue. Ein Beweis dafür ist ihre Darbietung von „Just Like a Woman“, die eine raue Zärtlichkeit annimmt, die die große Empathie, die ihre gesamte Performance durchdringt, noch verstärkt.
„Ich hatte und habe immer noch großen Respekt vor dem Mann, der so viele Songs geschrieben hat, die dazu beigetragen haben, das bewusste Denken von Millionen von Menschen zu entwickeln, die Art und Weise, wie sie die Welt sehen, zu formen“, sagt Marshall. „Obwohl meine Hände so sehr zitterten, dass ich sie in den Taschen lassen musste, fühlte ich mich sehr geehrt. Es fühlte sich für mich wie eine echte Ehre an, dort zu stehen“, erinnert sich Marshall heute an dieses Konzert.
Jetzt schon ein Klassiker
Dass sie dabei aber dennoch nicht in Ehrfurcht vor den Werken des großen Mannes erstarrt ist, zeigt sich auf dieser Scheibe Track für Track. Ein großes musikalisches Erlebnis, dass für viele weitere Künstler:innen die Türen aufstoßen sollte, sich mit Dylans Musik zu beschäftigen. Cat Powers Dylan-Konzert-Album ist eine kongeniale Fortschreibung und bereits jetzt als Referenzprodukt zu Dylans historischen Rock-Konzerten der Mittsechziger Jahre ein Klassiker. Chapeau, Chan Marshall aka Cat Power!