Amerika und Americana im Jahr 2020

Amerika wird 2020 zum großen Rätsel. Weihnachtsspaziergang in der Darmstädter Lincoln-Siedlung.
Die Veröffentlichung von Americana-Alben mit direktem oder indirektem Kommentar zur politisch-gesellschaftlichen Lage in den USA schien 2019 gleichsam Legion. Ob Newcomer J.S. Ondara oder Altmeister Neil Young, ob Singer-Songwriter Eilen Jewell oder Americana-Reibeisen Ryan Bingham – viele, viele wollten und mussten sich äußern zur großen gesellschaftlichen Spaltung und zum Verlust des amerikanischen Traums in den USA.
Americana ist so bunt und vielfältig wie nie
Americana ist heute mehr als Alternativ Country plus Folk plus Blues oder Old Time. Längst haben Künstlerinnen und Künstler wie Rhiannon Giddens, Dom Flemons, Alynda Lee Segarra oder Vikesh Kapoor es für eine große Vielfalt geöffnet. Dieses Americana betont die Weite des Landes, und dass dort Platz für viele Menschen unterschiedlichster Herkunft, Überzeugungen und Religion ist. Giddens und Flemons haben die schwarzen Wurzeln der amerikanischen Folk- und Countrymusik offengelegt. Alynda Lee Segarra hat die lesbische und Latino-Perspektive eingebracht und Vikesh Kappoor hat vor einigen Jahren gezeigt, wie sich auch die Kinder der neuen Einwanderer aus Asien die amerikanische Rootsmusik aneignen. Während der gebürtige Kenianer J.S. Ondara noch einmal gezeigt hat, wie sehr Künstler des anderen Amerika wie Bob Dylan weltweit noch heute ein positives Amerika-Bild erzeugen. Allerdings hat Ondara, in der Wirklichkeit angekommen, mittlerweile durchaus ein gebrochenes Verhältnis zum amerikanischen Traum. Er weiß wie viele ihn gar nicht mehr leben können, weil es ihnen verwehrt wird.
Aber der Trend zur Vielfältigkeit scheint unumkehrbar. So erscheint Ende des Monats hierzulande das Album „Rearrange My Heart“ der Gruppe „Che Appalache“, die sich der Fusion von Latino und Amerikanischer Roots Music widmen und inhaltlich sich klar gegen Fundamentalismus und Othering wenden. Produzent ist Bluesgrass-Legende Bela Fleck. Beeindruckend ihr Song „The Dreamer“, der den Hoffnungen und Ängsten der sogenannten „Dreamer“, der jungen Menschen, die seit ihrer Kindheit in den USA leben, aber aufgrund der politischen Gegebenheiten nie eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bekamen. Über ihnen schwebt nun das Damoklesschwert der weiteren Entscheidungen der Trump-Administration, die auch in diesem Fall eine klare Politik der Spaltung und Ausgrenzung betreibt.
Migration
Denn die Kriminalisierung der Einwanderer aus Lateinamerika und Mexiko ist zugleich Grundpfeiler und wichtiges Stilmittel des Trumpismus. Da ist die grenzüberschreitende Fusion-Musik von Che Apalache ebenso wichtig wie das neue Projekt von Folksänger M.Ward. Seine „Migration Stories“, die im April dieses Jahres erscheinen, verbinden Motive der Migrationsgeschichte seiner eigenen Familie mit den aktuellen Migrationsgeschichten. An die Migrationsgeschichte der Pfälzer Familie Trump muss man da leider auch wieder erinnern. Der Nachfahre der Kallstädter Trumps möchte gerne die Schotten dichtmachen. Ein wichtiges Identifikationsmerkmal und eine bedeutender Bestandteil des amerikanischen Traums wären zerstört.
Allegorien und Metaphern
Eine interessante Platte verspricht auch „Just Like Moby Dick“ von Terry Allen & The Panhandle Mystery zu werden. Das von Dylan-Gitarrist Charlie Sexton koproduzierte Album widmet sich einem der archetypischen amerikanischen Romane „Moby Dick“ und verknüpft es assoziativ, allegorisch und metaphorisch mit Brecht, Amerika im Krieg und dieser scheinbar ur-amerikanischen Mentalität des Eroberns, des Kräftemessens, des Daseinskampfes in all seinen tragischen und tragikomischen Ausformungen. Eine fast dylanesk anmutendes Panorama scheint den Hörer hier zu erwarten.
Zur aktuellen Bedeutung von Bob Dylan
In Darmstadt findet am 18. April der Darmstädter Dylan-Tag 2020 statt (mehr unter https://paedagogtheater.de/dylantag2020/). Da werden sich manche fragen, was hat der uns denn zur aktuellen politischen Situation noch zu sagen? Und in der Tat, Dylan äußert sich nicht zum orangefarbenen Präsidenten. Er hat sich aber auch nicht zu einer öffentlichen Unterstützung von Obama hinreißen lassen. Zu sehr wusste und weiß er, dass das vermeintliche Machtzentrum der USA selber in einem festen Rahmen von wirtschaftlicher und politischer Macht eingebunden ist. Für Clinton hat er noch gespielt, als Kind der alten New Deal-Koalition von gewerkschaftlich organisierten Industriearbeitern, Afroamerikanern und städtischen Mittelschichten“ hat er noch Erinnerungen an amerikanische Politik jenseits des Neoliberalismus. Umso enttäuschter muss er von der Politik der Demokraten in den letzten Jahrzehnten gewesen sein.
Mit Songs wie „Union Sundown“, „Heartland“ oder „Workingman’s Blues #2“ hat er sich auch in den späteren Phasen seiner Karriere immer wieder einmal mit den Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen in den USA auseinander gesetzt. Immer wieder voll Empathie für die einfachen Menschen. Dylan ist zwar ein Mittelklasse-Kid, aber er stammt aus einer Bergarbeiterregion und weiß wie hart und entbehrungsreich deren Leben war. Zugleich hat er in seiner gesamten Karriere stets einen fruchtbaren Austausch mit dem schwarzen Amerika gepflegt (siehe auch: https://cowboyband.blog/2018/05/11/bob-dylan-und-black-music/).

Bob Dylan, Copyright: Wikimedia Commons
Dass Dylan durchaus noch teilnimmt am aktuellen Geschehen, beweist auch eine andere Begebenheit, die hierzulande kaum bemerkt wurde. Für einen Sampler mit Wedding Songs für gleichgeschlechtliche Paare hat er 2018 den American Songbook-Klassiker „She’s Funny That Way“ als „He’s Funny That Way“ beigesteuert und begeisterte sich richtig für das Projekt, wie man den Ausführungen des Produzenten entnehmen konnte.
Ansonsten gilt bei Dylan: Seine Songs sind – solange die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft gerade auch im Zusammenspiel von Ökonomie, Sozialisationsinstanzen und politischem Raum in ihren Grundsätzen unverändert ist – so universell wie Stücke wie Stücke von Shakespeare oder Goethe. „Masters Of War“, It’s Allright Ma“, „All Along The Watchtower“ oder „Hurricane“ haben ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren.
Bob Dylan bleibt qua Botschaft der Anti-Trump. Da muss er gar nix mehr Neues sagen oder schreiben.
Aktuelle politische Auseinandersetzungen und ihre musikalischen Ausdrucksmittel
Und so wird auch immer wieder gern auf sein Liedgut zurückgegriffen. So erklang beim „March For Our Lives“ am 24. März 2018 eine von Jessica Houston gesungene Version des Dylan-Klassikers „The Times They Are Changin“. Es waren die Schülerinnen und Schüler die massenhaft gegen den Waffenwahn in den USA aus die Straße gingen. Denn eine – man muss es so sagen – mittlerweile fast alltägliche Gefahr für Schülerinnen und Schüler sind Schulmassaker.
Und überhaupt: Sieht man einmal von den klassischen Arbeitskämpfen in den traditionellen Industrien wie Automobil- oder Bergbau ab, sind die Akteure der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu einem Großteil jung und weiblich. Das mag bei #MeToo und „Women’s March to Washington“ in der Natur der Sache liegen. Aber auch bei „Sunrise Movement“ – vergleichbar mit „Fridays For Future“ – oder den im vergangenen Jahr in vielen Bundesstaaten im Streik befindlichen Pflegekräften und Lehrenden ist dies so.
Das Alter der Protagonisten verhindert aber nicht die Anknüpfung an traditionelles Protestliedgut. So kann man in youtube hören wie die vielen Mädels und ein paar Jungs von Sunrise Movement das alte Arbeiterlied „Which Side Are You On“ zu „Does It Weigh On You?“ wird. „Belastet es Dich, wenn Kohle verbrannt und Klima geschädigt wird?“ Also: Auf welcher Seite stehst Du? Und da die sozialen Medien nun jedem erlauben viral zu gehen, setzt sich auch so mancher hin und beantwortet die Zukunftsfragen mit der Unterstützung des Green New Deals in der musikalischen Folkästhetik des 1930er und 1940er Jahre. Genauso wie die streikenden Pflegekräfte des Kaiser-Gesundheitskonzerns ihr Dilemma im archaischen Country-Blues-Schema ausdrücken.
Pop und Rapmusik kann man dagegen hören, wenn man den Lehrenden aus Chicago und die Streikenden von General Motors auf youtube folgt. Da erklingt ein optimistisches Streiklied in der „Windy City“ nach der Melodie von „YMCA“ von den Village People oder ein anklagender Rap mit dem Titel „Burn Barrel“ bei den Automobilarbeitern.

Sunrise Movement-Logo, Copyright: http://www.sunrisemovement.org
Quo vadis Amerika und Americana?
Auch 2020 wird es, wie schon oben festgestellt, interessante Alben geben, die sich mit den politischen Zuständen in den USA auseinandersetzen. So wird auch Kyshona, eine interessante schwarze Stimme aus Nashville, im Februar ihr Album „Listen“ veröffentlichen, deren Single-Auskopplung „Fear“ als Aufforderung zu hören ist, Ungleichheit und Diskriminierung eben nicht hinzunehmen, sondern ohne Furcht dagegen anzugehen.
Man darf gespannt sein wie klar und in welcher Form sich beispielsweise Rhiannon Giddens oder Alynda Lee Segarra positionieren. Jack White hat sich abermals im Vorwahlkampf für Bernie Sanders engagiert. Von John Mellencamp darf man ebenfalls einen pro-demokratischen Einsatz erwarten wie von Steve Earle. Spannend wird es ob wieder die Music Row Democrats in Nashville reaktiviert werden, bei den Emmylou Harris engagiert war. Gerade die Protagonisten der Country Music tun sich bekanntermaßen schwer mit klaren Statements, da muteten die jüngsten Äußerungen von Superstar Garth Brooks positiv überraschend an. Der erklärte nämlich, so konnte man bei country.de lesen, anlässlich eines Treffens mit Ex-US-Präsident Jimmy Carter: „„Die Carters repräsentieren Menschlichkeit und Selbstlosigkeit und da spielt es keine Rolle, ab man Demokrat oder Republikaner ist. Man respektiert die anderen, egal welche Hautfarbe sie haben, welche sexuelle Orientierung oder Religion sie haben“.

Stimme des anderen Amerika: Rhiannon Giddens.
Im Amerika der beleidigenden Twitter-Gewitter des US-Präsidenten stellen solche Worte schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr da. Das Land scheint verroht, gespalten und desparat. Trotz oder gerade wegen des Impeachment-Verfahrens ist ein erneuter Wahlsieg Trumps nicht ausgeschlossen. Die Demokraten sind ihrerseits ebenfalls gespalten. In das weniger politisch-strategisch als demoskopisch-betriebswirtschaftlich agierende Parteiestablishment – hier schaut man nach Umfragen, nach den Swing States und unternimmt keine Anstalten neue politische Mehrheiten zu gewinnen – und in die Parteilinke, die (noch) nicht die charismatischen Figuren hat, die mit progressiver Agenda auch in konservativeren Staaten bestehen können. Trotzdem sind Kandidaten wie Elisabeth Warren oder Bernie Sanders und die junge Politikhoffnung Alexandria Ocasio Cortez eine Bedrohung für das Partei-Establishment. Da deren Hoffnung John Biden schwächelt, kommt nun der Milliardär Michael Bloomberg ins Spiel. Sollte er wirklich der Gegner von Trump werden, könnte das zum großen Vorteil von Trump werden. Auch über die entschiedenen Parteigänger Trumps hinaus wird der New Yorker im Süden und im Heartland nichts ausrichten können. Stattdessen würde endgültig deutlich, wie sehr die Demokratie in den USA zur Manege der Superreichen geworden ist.
Es steht also vieles auf dem Spiel bei diesen Wahlen. Und es kann noch viel passieren bis zum November. Trump hatte keine Mehrheit unter der Bevölkerung, möglicherweise wird er das wieder nicht schaffen und trotzdem gewinnen. Und sollte er verlieren, dann weiß keiner, ob er auch wirklich gehen will. In einem bemerkenswerten Aufsatz in „Blätter für deutsche und internationale Politk hat Alexander Hurst ein keinesfalls abwegiges Bürgerkriegs-Szenarie -Szenario“ im Falle von Impeachment oder Abwahl an die Wand gemalt.
Die Americana-Szene wird sich, wenn sie sich engagiert, mehrheitlich auf die Seite der Demokraten schlagen. Spannend wird es, wie stark und wie polarisierend für Kultur- und Unterhaltungsszene sich diese Wahl in Gänze auswirken wird.
2020 wird in vielerlei Hinsicht ein entscheidendes Jahr.